Julius Káldy an Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
Budapest, Mittwoch, 19. Februar 1879

Zurück

Zeige Markierungen im Text

Absolute Chronologie

Vorausgehend

Folgend


Korrespondenzstelle

Vorausgehend

Folgend

Hochgeehrter Herr Professor!

Ich bin erst jetzt in der Lage Ihren sehr lieben, und höchst interessanten Brief zu beantworten, da ich nach der alten Partitur des deutschen Theaters förmliche Jagd machen musste, denn leider befindet sich diese Partitur nicht mehr in Budapest vor. Als vor circa 14 Jahren das hiesige deutsche Theater aufhörte Stadttheater zu sein, und hier ein auf Actien gegründetes deutsches Theater erbaut wurde, in welchem nur Operetten und Possen gegeben werden, wurde die ganze Opernbibliothek als Eigenthum der Stadt versteigert, sämtliche Musickalien in kleinere Parthien sortirt, wurden von Provinzdirectoren angekauft. Trotz eifrigsten Nachsuchens, Nachfragens allerseits, gelang es mir nicht den Nahmen des Käufers zu erfahren. Ich schrieb nun nach allen Theilen der Provinz an Theaterdirectoren; aber auch dies blieb ohne Erfolg – es ist nicht zu eruiren wo, und in wessen Besitz sich wohl jetzt die fragliche Partitur befinde. All dies Nachsuschen, Nachfragen, und Corespondieren nahm viel Zeit in Anspruch, und dies ist auch | die Ursache dass ich Ihren Brief der mich unendlich erfreute erst jetzt beantworte. Gestern erhielt ich auch Ihr vom 12 Feb. datirtes Schreiben – ich werde also alle Ihre Nachfragen mit der grössten Genauigkeit beantworten*.

1.) Das Stück Nro II wird von Eremiten gesungen.

2.) Dem Satze H-mol 4/4 Tact geht Folgendes voraus: Adagio maestoso bbb C (Auftritt des Eremiten) „Wer legt auf ihn so strengen Bann? Ein Fehltritt ist er solcher Büssung werth?[“] Andante con moto (Ottokar) „Bist du es heilger Mann den weit und breit die Gegend ehrt? Sei mir gegrüsst Gesegneter des Herrn! Dir bin auch ich gehorsam gern. Sprich du sein Urtheil, deinen Willen, will freudig ich er

[Notenbeispiel: ]

jetzt tritt der von mir gesendete Satz (Nro II) ein: (nachdem die Kürzung der 22 Tacte „Leicht kann des Frommen Herz“ bis „Wer griff in seinen Busen nicht[“]) Adagio (Eremit) „Es finde nie der Probeschuss mehr statt! Ihm, Herr! der schwer gesündigt hat

jetzt komt die Stelle H mol 4/4 Tact. | So fand ich diese Stelle fast in sämtlichen alten geschriebenen Partituren, die ich bis dato in Händen hatte, und so fand ich sie auch in der Partitur des deutschen Theaters, die ich leider jetzt nicht mer vorfinden konnte. Im Jahre 1857 hörte ich diese Stelle zum erstenmale bei einer Aufführung des Freischützes im hiesigen deutschen Theater; ich kam eben von Wien und war daher sehr überascht hier etwas zu hören, was ich in dieser Oper noch nie gehört, besah mir die Partitur, und fand zu meinen nicht geringen Erstaunen diese von mir gesendeten 12 Tacte (Hmoll 4/4 Tact). Sie waren nicht nur in der Partitur, sondern auch in allen Orchesterstimmen vorhanden, in einigen Orchesterstimmen sogar das Dato mehrerer Aufführungen der Oper aus den Jahren 1823–24–25; auch versicherten mich viele dahmals noch lebende Musicker, die schon in den 20ger Jahren Mitglieder der hiesigen Bühne waren dass diese Stelle hier nie anders gesungen wurde, ja sie kannten sogar die Stelle in H moll 68 Tact nicht. Da ich nun aus dieser Partitur später oft dirigirte, und daraus unzählige Male mit den Sängern studirte, so ist es mir möglich Ihnen das ganze Finale wie es sich | in der alten Partitur des deutschen Theaters vorfand ganz genau an[zu]geben. Das Finale war vollständig bis zur Kürzung von den 22 Tacte (Leicht kann etc) dan kam die von mir bezeichnete und gesendete Stelle (Nro II) (es fehlten aus dieser Partitur nur der 68 T. ## Andante quasi Allegretto (im Ganzen 39 Tacte) OttokarDein Wort genügt mir, ein Höhrer spricht aus dir[“]. ChorHeil unserm Fürst! er wiederstrebet nicht dem, was der fromme Klausner spricht.“ Ottokar (zu Max) „Bewährst du dich, wie dich der Greis erfand, dann knüpf’ ich selber euer Band“. ##### 68 von H dur war die Partitur wieder vollständig bis zu Ende. Ob aber diese Partitur die am 10. Dec. 1821 von Weber selbst gesendete war, ist jetzt da dieselbe nicht zur Hand schwer zu bestimmen.

In den ersten Aufführungen der Oper mag wohl dieses Finale hier ganz gegeben worden zu sein (nach oben angedeuteter Weise) doch später wurde Vieles gestrichen, ganz nach den Strichen welche im Kärnthnerthor Theater zu Wien in damaliger Zeit üblich waren, | nähmlich: Nach den ersten 47 Tacten wurden 6 Tacte gesprungen, dann ging wieder Alles bis nach

[Notenbeispiel: ]

hier folgte 2t Sprung von 26 Tacten bis

[Notenbeispiel: ]

folgt Auftreten des Eremiten.

Im Satze H dur 68 Tact wurden noch einige Wiederhohlungen ausgelassen, dan ging wieder Alles bis zu Ende. Aus dieser Partitur wurden nun sämtliche Partituren der Provinztheater, und auch die Partitur des ung. National Theaters copirt (ja manche sogar mit Hinweglassen der oben angedeuteten gestrichenen Stellen abgeschrieben) und so wurde dann dieses Finale fast auf allen deutschen | und ungarischen Bühnen gegeben. Es existirt sogar noch ein drittes ungarisches Textbuch der Oper aus den Jahre 1824 (dies die erste Übersetzung ins ungarische) in welchen das 3te Finale ganz nach dieser Art übersetzt ist. Es dürfte Sie interessiren zu erfahren, dass der Freischütz in ungarischer Sprache im Jahre 1824 zum ersten male am ständischen Theater zu Klausenburg in Siebenbürgen aufgeführt wurde, und dass auch hier in Ungarn nicht das kleinste Städtchen ist, wo seine Melodien nicht erklungen wären.

Was die in einigen Zeitungen erschienene Notiz betrifft so scheint sie wie Sie ganz richtig bemerkten von einem Unberufenen herzurühren, und dadurch entstanden zu sein, dass ich mit einigen befreundeten Musickern über die Ihnen von mir gesendete Stelle sprach, und ihnen mittheilte dass Weber laut seinen Tagebuch die Partitur des Freischütz im Jahre 1821 am 10. Dez. nach Pest sendete – da nun das hiesige ungarische Theater erst im Jahre 1838 eröffnet wurde, so konnte er sie natürlich nur an das deutsche Theater gesendet | haben welches schon im Jahre 12 – oder 13 eröffnet wurde; Ich bin also mit Ihrer eingesendeten „Berichtigung“ gänzlich einverstanden.

In Betreff der älteren Partitur des ung. Nat. Theater (in welcher die von mir gesendeten 2 Stellen sind) scheinen sehr geehrter Herr Professor meine Zeilen, da ich vielleicht selbst etwas unklar schrieb, miszverstanden zu haben. In dieser Partitur is[t] fast das ganze dritte Finale nach oben angedeuteter Weise mit Kürzung von etwa 47 Tacten vorhanden, und der Eremit ist durchaus nicht ausgelassen – nur befinden sich noch die andern in meinem ersten Brief gesendeten 23 Tacte Nro I* darin um eventuell eine Aufführung ohne Eremiten zu ermöglichen, wo dann Ottokar als Deus ex machina diese Tacte singt. Ich fand diese Tacte nur in einer Partitur, habe sie aber nie gehört*; bin auch ganz Ihrer Meinung dasz sie von einem Anonymus herstammen. Doch anders glaube ich verhält es sich mit den 12 Tacte[n] H moll 4/4 T. Ist es nicht möglich dasz Weber diese Tacte im Jahre 1822 bei seiner Anwesenheit in Wien geschrieben habe, und vielleicht einen Sänger der eine schöne, tiefe Bassstimme hatte diese kleine | Concession gemacht, dasz derselbe Gelegenheit habe einige seiner schönen tiefen Töne hören zu lassen?*

Wohl weiss ich und zwar aus Ihren höchst interessanten Werke dasz Weber sein Tagebuch sehr gewissenhaft geführt, doch war ja Weber in Wien so in Anspruch genommen um die vielen Entstellungen und Verstümmelungen mit welchen sein Werk dort gegeben wurde, als da waren: die Streichung der halben Arie des Ännchen (3 Act), die Verwandlung der Freikugeln in Zauberbolzen, die Metamorphose des Eremiten in einen Waldbruder, u. s. w. auszumerzen, schrieb er doch selbst über eine Aufführung seiner oper in WienDer Freischütz! Ach Gott!!“* Hatte er wohl da Zeit wenn er möglicherweise diese 12 Tacte dahmals schrieb dies auch in seinem Tagebuch anzuführen? Er hatte wahrlich vollauf zu thun um seinem Freischütz die ursprüngliche Gestalt wieder zu geben*. – Ich glaube dass diese 12 Tacte dahmals von Wien aus ihren Weg nahmen, denn auch in vielen Städten Österreich’s werden sie noch heute gesungen. Ich masse mir | natürlich über diese Stelle Ihnen gegenüber kein Urtheil an, das Obige sind eben nur einige Bemerkungen, die ich mir Ihrer geneigten Aufmerksamkeit zu empfelen erlaube.

Ich schliesse beende nun mein Schreiben, und sehe einer Antwort Ihrerseits mit vieler Sehnsucht entgegen. Ich verbleibe in aufrichtigster Verehrung
Ihr stets ergebenster
Julius Káldy.

Sollten Sie die Partitur des Nat. Theater durchblicken wollen, so kann ich sie zu jeder Zeit auf einige Tage senden.

Apparat

Zusammenfassung

teilt mit, dass vor 14 Jahren das deutsche Theater aufhörte Stadttheater zu sein und alle Materialien versteigert wurden, trotz vieler Bemühungen hat er nicht feststellen können, wo die Freischütz-Partitur hingekommen ist; des weiteren gilt der Brief der Erörterung der unterschiedlichen Fassungen der Eremiten-Stelle; er teilt noch mit, dass der Freischütz in ungarischer Sprache seine EA 1824 am ständischen Theater in Klausenburg hatte; er glaubt, dass die bewussten 12 Takte von Weber selbst herrühren und über Wien den Eingang in den österr.-ungar. Raum gefunden haben

Incipit

Ich bin erst jetzt in der Lage

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Frank Ziegler

Überlieferung

  • Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Signatur: Weberiana Cl. X, Nr. 315

    Quellenbeschreibung

    • 3 DBl. (9 b. S. o. Adr.)
    • komplett in lateinischer Schrift
    • am Briefkopf gestempelt: „an Jähns“

Textkonstitution

  • „mer“sic!
  • „Stelle“über der Zeile hinzugefügt
  • „zu“sic!
  • „dann“über der Zeile hinzugefügt
  • „fast“über der Zeile hinzugefügt
  • S„s“ überschrieben mit „S
  • „der“über der Zeile hinzugefügt
  • „betrifft“über der Zeile hinzugefügt
  • „zu“über der Zeile hinzugefügt
  • „… und dadurch entstanden zu sein“nen überschrieben mit n
  • as„en“ überschrieben mit „as
  • „Herr“über der Zeile hinzugefügt
  • „mit Kürzung von etwa 47 Tacten“über der Zeile hinzugefügt
  • „Nro I“über der Zeile hinzugefügt
  • „in Wien“über der Zeile hinzugefügt
  • „mir“über der Zeile hinzugefügt
  • „schliesse“durchgestrichen
  • „beende“über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • „… mit der grössten Genauigkeit beantworten“Die nachfolgenden Angaben beziehen sich auf die beiden Kopien, die Káldy mit seinem Brief vom 16. Dezember 1878 übersandt hatte; heute in D-B, Weberiana Cl. IV B [Mappe XVII], Nr. 1349 K und 1349 L.
  • „… N ro I“D-B, Weberiana Cl. IV B [Mappe XVII], Nr. 1349 L.
  • „… habe sie aber nie gehört“Die entsprechende von Káldy übersandte Kopie befindet sich heute in D-B, Weberiana Cl. IV B [Mappe XVII], Nr. 1349 K.
  • „… tiefen Töne hören zu lassen?“Diese Argumentation ist völlig abwegig, da die Eremitenpartie in Wien aufgrund der entsprechenden Anweisungen der Zensur komplett gestrichen war; Weber konnte in Wien gar keinen Interpreten dieser Rolle hören.
  • „… Der Freischütz! Ach Gott !!“Gemeint ist der Tagebucheintrag vom 19. Februar 1822.
  • „… ursprüngliche Gestalt wieder zu geben“Tatsächlich probte Weber die Oper in Wien in Vorbereitung der von ihm dirigierten Aufführung am 7. März 1822, korrigierte etliche Tempi, ergänzte den bis dahin gestrichenen, zur Romanze Nr. 13 gehörenden Arien-Teil des Ännchen („Trübe Augen“), konnte aber auf die Zensureingriffe (und somit auch auf die Streichung des Eremiten) keinen Einfluss nehmen.

    XML

    Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
    so bitten wir um eine kurze Nachricht an bugs [@] weber-gesamtausgabe.de.