Weber und die Berliner Singakademie
Als Gründungstag der Singakademie Berlin gilt der 24. Mai 1791, auch wenn regelmäßige Treffen der Stammmitglieder unter dem ersten Leiter Carl Fasch bereits ab Mai 1790 stattfanden. Ausgangspunkt war der Wunsch, Meisterwerke der katholischen wie protestantischen Kirchenmusik außerhalb des liturgischen Rahmens einzustudieren und (ab September 1791) auch öffentlich aufzuführen. Als erste bürgerliche, vom höfisch-repräsentativen wie kirchlich-liturgischen Musikleben weitgehend emanzipierte Chorvereinigung, in der Männer und Frauen, Profis wie Laien (nur letztere zahlten Mitgliedsbeitrag) ohne konfessionelle Einschränkungen gemeinsam musizierten, löste die Singakademie nicht nur im deutschsprachigen Raum eine ganze Welle vergleichbarer Gründungen aus, sie galt im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auch im restlichen Europa und selbst in Übersee als vorbildhaft. Das spezielle Interesse an älterer Musik (nicht lediglich als historisches Studienobjekt, sondern – in dieser Zeit noch außergewöhnlich – auch als Bereicherung für das Konzertrepertoire) führte u. a. zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Werk Bachs und gab somit wichtige Impulse für dessen Wiederentdeckung im öffentlichen Musikleben (zudem wurde die Musiksammlung der Singakademie eine der wichtigsten Sammelstätten für das musikalische Œuvre der Bach-Familie).
Die Mitglieder der Singakademie trafen sich in der Regel ein- oder zweimal wöchentlich (meist montags und/oder dienstags) zur Probe; ihr Domizil war vor dem Bau des eigenen Singakademie-Domizils am Festungsgraben (Eröffnung 1827, Entwurf Schinkel) ab Oktober 1793 der sogenannte Runde Saal der Königlich-Preußischen Akademie der schönen Künste im Marstall- und Akademiegebäude Unter den Linden mit einem Fassungsvermögen von ca. 180 Personen. Ab 1800 bis zu seinem Tod 1832 prägte Carl Friedrich Zelter, der vorherige Assistent Faschs, die Geschicke des Chores, der sich unter dessen Leitung zu einer das Musikleben der Stadt prägenden Institution entwickelte: Wer im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Berlin musikbegeistert war und singen konnte, der war meist auch Mitglied der Singakademie. Bereits 1802 hatte der Chor über 200 Mitglieder – mehr als der Probenraum fassen konnte: Die Zahl der Gesangsbegeisterten wuchs beständig: 1813/14 sowie (nach kurzfristig rückläufigen Zahlen 1815 bis 1818) ab 1823 waren es über 300, ab 1827 bereits über 400 Personen (u. s. w.).
Weber notierte am 25. Februar 1812 (fünf Tage nach seiner ersten Ankunft in Berlin) erstmals den Besuch einer Singakademie-Probe und äußerte sich im Tagebuch sehr positiv. Er verpasste bis zu seiner Abreise (31. August) nur wenige Zusammenkünfte (Besuch von Proben am 3., 9., 10., 16. März, 14., 20., 21., 27., 28. April, 4., 5., 11., 19., 25., 26. Mai, 1., 2., 8., 9., 15., 16., 22., 23., 29. Juni, 6., 7., 13., 21., 27., 28. Juli, 4., 5., 10., 11., 18., 24., 25. August, Aufführungsbesuche am 27. und 29. März) und hörte dabei sowohl „historische“ als auch zeitgenössische Musik u. a. von Graun, Zelter, Fasch, Berner, Lotti, B. A. Weber und G. Weber. Ein Schlüsselwerk des Chores, Faschs Missa a 16 voci (inspiriert von Benevolis Missa in diluvio aquarum multarum), erhielt Weber 1814 aus dem Nachlass des befreundeten Friedrich Ferdinand Flemming in Abschrift geschenkt. Auch während der Berlin-Besuche 1814 und 1816 finden sich regelmäßig Hinweise auf Besuche in der Singakademie mit teils begeisterten Kommentaren, seltener 1821 und nur einmal 1825.
Für Weber war der Kontakt zur Singakademie insbesondere wichtig, um in Berlin gesellschaftlich Anschluss zu finden und sich, über die zunächst durch die Familie Beer vermittelten Kontakte hinaus, in kunst- und musikinteressierten Kreisen zu vernetzen. Der große, engagierte und einflussreiche Freundeskreis, den der Komponist hier in kürzester Zeit aufbauen konnte, rekrutierte sich ganz überwiegend aus Mitgliedern des Chors; zu nennen sind als besonders enge und lebenslange Freunde der Naturwissenschaftler Hinrich Lichtenstein – gleichzeitig der erste Verfasser einer umfangreicheren Geschichte der Singakademie1 – mit seiner Frau Victoire, der bereits genannte früh verstorbene Arzt Flemming und dessen Verlobte Friederike Koch sowie der Jurist Friedrich Wollank, daneben aber auch die Familien Beer, Hellwig, Jordan, Sebald und Türke sowie der Vizedirektor (ab 1815) und ab 1832 Amtsnachfolger Zelters Carl Friedrich Rungenhagen, der 1826 die erste gedruckte Weber-Biographie vorlegte. Ab 1816 sind zudem engere Kontakte Webers zum Musiksammler Georg Poelchau bezeugt, der seit 1813 in Berlin lebte und 1814 der Singakademie beigetreten war. Zudem waren viele Sänger der Königlichen Schauspiele, mit denen Weber am Theater zusammenarbeitete, gleichzeitig Mitglieder der Singakademie, wie etwa die Herren Bader, Beschort, Devrient, Eunike und Gern sowie Anna Milder und Josephine Schulze.
Im Konzert-Repertoire der Singakademie dürften Webers Werke während der Amtszeit Zelters, der dem Werk des jüngeren Komponistenkollegen ebenso reserviert gegenüberstand wie sein befreundeter Briefpartner Goethe, kaum präsent gewesen sein; bei geselligen Zusammenkünften wurden seine populären Chöre (etwa jene aus der Preciosa-Musik) von den Chormitgliedern jedoch gerne gesungen. Bezeichnenderweise finden sich auch im Notenarchiv der Singakademie, das seine wichtigsten Zuwächse in der Zelter-Ära verzeichnete, nur vereinzelt Webersche Kompositionen2. Wichtiger für die Werk-Rezeption war weniger die Institution Singakademie als vielmehr deren Mitgliederstamm, der sich in zahlreichen Privatmusiken, Salons etc. für Aufführungen von Kompositionen Webers engagierte.
Weiterführende Literatur
- T., Nachricht von einem musikalischen Institute in Berlin, in: Journal des Luxus und der Moden, Bd. 9, Nr. 2 (Februar 1794), S. 91–93
- Christian Filips, Artikel Sing-Akademie zu Berlin, in: Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, hg. von Uta Motschmann, Berlin, München, Boston 2015, S. 489–508 (darin S. 508 weiterführende Bibliographie)
Einzelnachweise
- 1Zur Geschichte der Sing-Akademie in Berlin. Nebst einer Nachricht über das Fest am funfzigsten Jahrestage ihrer Stiftung und einem alphabetischen Verzeichniss aller Personen, die ihr als Mitglieder angehört haben, Berlin: Trautwein & Co., 1843.
- 2Vgl. Das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. Katalog, hg. von Axel Fischer und Matthias Kornemann (mit Beiträgen von Ulrich Leisinger, Ralph-Jürgen Reipsch, Christoph Henzel, Klaus Hortschansky, Tobias Schwinger, Mary Oleskiewicz), Berlin, New York 2010. Im Gegensatz dazu sind in den der Singakademie gehörigen Liederbüchern der Liedertafel mehrere Weber-Chöre enthalten.