Carl Baermann sen. an Friedrich Wilhelm Jähns
München, Donnerstag, 14. Mai 1868
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Mein werthester lieber Freund!
Zürnen Sie mir nicht auf’s Neue, wenn ich mit der Beantwortung Ihrer beiden lieben Brief[e] etwas spät nachhinke, ich schwöre es Ihnen bei meinen Clarinett-Mundstück (: gewiß für einen Clarinettisten hohen Schwur :), ich konnte nicht früher schreiben. Erstens waren die Dienste im Theater für uns arme Blasthiere geradezu schamlos, zweitens hatte ich höchst wichtige Briefe, die auch schon längere Zeit mit Ungeduld auf Erlösung warteten, nach Stuttgart, Genf, Cöln, Offenbach, Mainz u. Leipzig zu schreiben, und drittens leb ich jetzt seit 14 Tagen in einer solchen Papp- u. Öhlgeruchs-Atmosspähre‡, daß ich nur mehr Tapezierer- u. Anstreicher-Gedanken im Kopfe habe.
Ich will Ihnen dieses Räthsel dadurch lösen, daß ich Ihnen ganz einfach sage, daß meine Wohnung neu tapeziert u. die Böden u. Thüren frisch angestrichen werden. Sehen Sie! so lösen sich oft die verwikelsten Sachen auf die einfachste Art, und wir stehen dem Ei des Columbus oft viel näher, welches Letztere man wohl nicht von dem deutschen Zollparlament sagen wird können, denn dank den ultramontanen Tröpfen, wird wohl hier der alte deutsche Michel wieder seine Rolle spielen, wenn seine Meister ihn nicht gehörig durchprügeln!* – doch um Gotteswillen in diesen Öhlgeruch keine Politick, und ich will versuchen Ihre Fragen mit einigen Anstand zu beantworten, und das will bei Gott viel sagen; lachen Sie nicht lieber Freund, setzen Sie sich nur an meinen Schreibtisch u. probieren Sie Ihr Glück.
Also erster Brief!
In diesen Brief haben Sie weiter keinen Zweifel, als den, welches von den beiden Or[i]ginalen des F-moll Clarinett-Concerts das ältere sei, das meinige oder das in Ihren Händen sich befindende, die herausradierten 4 Tackte bringen Sie in neue Zweifel und für Sie wird die Sache schwieriger, nicht aber für mich. Ich bin vollständig der Überzeugung, daß mein Exemplar das ältere ist. Warum? das will ich Ihnen aus meiner Erinnerung mittheilen, die trotz des fatalen Öhlgeruchs, doch noch Stich hält. Erstens schrieb Weber diese Partitur bei uns in München im Jahre 1811, Zweitens, weiß ich aus Mittheilungen meines Vaters, daß Weber ein paar Jahre später sich die Partitur von ihm zur Abschrift ausbat, drittens reiste Weber einige Jahre nach der Composition dieses Concertes mit Vater zusammen, wo er von meinem Vater dieses Concert öfters hörte, und auf dieser Reise wahrscheinlich die Änderung der 4 Tackte vornahm, und 4t lies mein Vater die beiden Concerte vom Weber in denselben Jahre in welchen sie componiert waren auch einbinden, welchen Einband sie noch haben*, u. in welchen Einband er dieselben auch an Weber zur Abschrift übersendete. Dieß sind größtentheils Mittheilungen die ich oftmals aus Vater Mund hörte, und deren ich mich selbst erinnern würde wenn auch der Papp u. Öhlgeruch noch stärker wäre.
Nun zum zweiten Brief –
Was die Musik zum Namenstage* betrifft, so weiß ich nur bestimmt daß dieselbe am 15t Juli 1815 aufgeführt wurde, und daß die Musik dazu sich in meinen Händen befand, sich aber daraus ohne meine Erlaubniß entfernte wie so manches was ich ungerne vermiße, so kamen Vater u. ich bei einer Anwesenheit in Berlin um wenigstens 30 Briefe u. Or[i]ginale, durch einen Diebstahl*.
Nun wünschen Sie noch mein Urtheil über das Quintett u. Duo-Concertant. Was soll ich Ihnen da sagen! Ich liebe beide schwärmerisch, u. spiele beide mit gleicher Passion, da sie so viel herrlichen Stoff enthalten, und ich das Glück habe durch die Tradition meines Vaters bis in das innerste Wesen beider Compositionen gedrungen zu sein. Das Quintett ist ein herrliches reich begabtes Clarinett-Stück wozu wir Clarinettisten uns nur von Herzen gratulieren können ein solches Stück von Gottes-Gnaden zu besitzen, doch möchte ich es Solo-Quintett nennen, da auf die Clarinett-Stimme der ganze Werth der Composition u. Execution gelegt ist, und selbst für brillante Technik durch Passagen hinlänglich gesorgt ist.
Webers stärkste Seite war wohl nicht die polyphonische Schreibart, und es kommt mir oft vor als wen[n] Weber, wenn er ja einmal einen fugierten Satz anfängt, oder ein Fugen-Thema anschlägt, wie z. B. im Freischütz: „Er war von je ein Bösewicht“*, oder in der so göttlichen Euryanthe-Ouvertur (: im 2t Theil derselben :) wie gesagt als wenn Weber dabei selbst nicht recht heimlich zu Muthe wäre, und er sich in einer drückenden Luft befinde, aus der er so bald als möglich mit höchsten Anstande sich heraus zu begeben wünsche. So finden sich in diesen‡ Quintett einige Stellen im ersten u. letzten Allegro, während das Adagio /: Fantasia :/ so ganz ächt Weber vom Wirbel bis zur Zehe ist, dennoch ist das Quintett ein Meisterstück, und wer für Clarinette ein beßeres schreibt der trete vor und ich will ihn Mikrokosmus‡ nennen.
Das Duo-Concertant ist ein Stück welches mir in’s Herz gewachsen ist, und welchem ich in gewißer Beziehung den Vorzug vor dem Quintett geben möchte. Ich finde daßelbe noch origineller und in der Erfindung reicher u. genialer, und wenn ich mich altbaierisch ausdrücken darf noch weberischer als das Quintett, trotz der großen Weber-Züge deßelben; auch fodert es den polyphonischen Kritiker nicht so heraus, u. der erste Satz obwohl vortrefflich gearbeitet begnügt sich im Ganzen mit höchst gelungen[en] Nachahmungen, während das Quintett namentlich im letzten Satz eine fugirte Stelle enthält, (: vor den Eintritt der Des-dur Cantilene:), die wenigstens nicht die beabsichtigte Wirkung macht, bei welcher ich offen gestanden immer froh bin wenn sie glücklich überstanden ist, u. ich mit der nun ächt weberischen Des-dur Cantilene wieder gut machen kann, was ihn‡ dieß fremde Feld für Hinderniße in den Weg warf. Webers innere Anlage war zu reich mit Romantik, Melodie u. Fantasie ausgestattet, um sich in den tiefen Labyrinthe des Contrapunktes wohl u. heimisch zu fühlen, u. er hatte eben seine Mißion zu erfüllen, die eben die war die Menschen zu begeistern.
So nun hab ich geschrieben was mir heute möglich war, denn ich habe zu alledem noch höchst unanständige Leibschmerzen, u. wenn Ihnen daher etwas nicht gefällt u. behagt, so schreiben Sie es meinen werthesten Bauch, u. meinen öhlgetränkten Kopf u. Gehirn zu, ich kann es heute mit besten Willen nicht beßer, u. will heute noch recht viel Visiten machen u. recht artig sein, nur daß ich in eine beßere Luft komme, den[n] spazieren gehen kann ich auch nich[t] da es heftig regnet.
Von meiner Tochter Marie hab ich aus Stuttgart sehr
günstige Nachrichten, sie sang Sonntag den 10
Mai daselbst
die Agathe mit
außerordentlichen Beifall, sonst ist bei uns alles beim Alten, u. so hoffe ich daß es auch
zwischen uns mein lieber werthester Freund bleiben soll, u. grüße Sie in diesem
Gefühle mit samt den lieben Ihrigen viel tausendmal
Ihr Ihnen
ganz ergebner
u. aufrichtiger Freund
Carl Baermann
senior
München
den 14t
Mai
1868
Kommen Sie dieses Jahr nicht nach München?
Apparat
Zusammenfassung
Diskurs über die Frage, welche von beiden Partituren des F-Moll-Konzertes die ältere ist; Musik zum Namenstag für Heinrich Baermann (15. Juli 1815) ist ihm abhanden gekommen; Urteil über den musikalischen Gehalt von Klarinettenquintett u. Duo concertant
Incipit
„Zürnen Sie mir nicht auf's Neue, wenn ich mit der Beantwortung“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Signatur: Weberiana Cl. X, Nr. 26Quellenbeschreibung
- 1 DBl., 1 Bl. (6 b. S. o. Adr.)
- Am oberen Rand Bl. 1r von Jähns: No 6. Empfangen den 15. Mai. 1868.
Dazugehörige Textwiedergaben
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„Ich habe das Schicksal stets lange Briefe zu schreiben …“. Der Brief-Nachlaß von Friedrich Wilhelm Jähns in der Staatsbibliothek zu Berlin – PK. Die Briefe Carl Baermanns an Friedrich Wilhelm Jähns, in: Weberiana. Mitteilungen der Internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft e. V., Heft 8 (1999), S. 26–28 ,
Textkonstitution
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„Atmosspähre“sic!
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„diesen“sic!
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„Mikrokosmus“sic!
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„ihn“sic!
Einzelstellenerläuterung
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„… Meister ihn nicht gehörig durchprügeln!“Nach der Schaffung des Norddeutschen Bundes (1866) wurden durch Verträge mit den süddeutschen Staaten (8. Juli 1867) ein Zollbundesrat und ein Zollparlament errichtet. Das Zollparlament bestand aus Mitgliedern des Norddeutschen Reichstags und aus Abgeordneten, die in Süddeutschland gewählt wurden. Die ersten Wahlen zum Zollparlament ergaben 1868 in Bayern und Württemberg den Sieg antipreußischer partikularistischer Kräfte. Die Äußerung Baermanns ist offensichtlich im Vorfeld der Wahlen zu sehen.
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„… Was die Musik zum Namenstage“Dreistimmige Burleske „Drei Knäbchen lieblich ausstaffiret“ (JV 180).
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„… ginale , durch einen Diebstahl“Vgl. Brief Baermanns an Jähns vom 30./31. Oktober 1864.
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„… war von je ein Bösewicht“Der Freischütz (JV 277), Nr. 16 Finale, Cuno und fugierter Choreinsatz (T. 114 ff.).