Aufführungsbesprechung, Kroll’s Theater: „Silvana“ von C. M. v. Weber in der neuen Bearbeitung von Pasqué und Langer
Theater und Oper.
Kroll’s Theater. Carl Maria v. Weber’s „Silvana“ in der neuen Bearbeitung von Ernst Pasqué und Ferdinand Langer.
Carl Maria von Weber’s erste, 1799 geschriebene Oper war „Die Macht der Liebe und des Weines“, deren Manuskript bei einem Brande in dem Hause seines Lehrers J. N. Kalcher zu München verloren ging. Zur selben Zeit hatte der vierzehnjährige, junge Komponist bereits eine zweite zweiaktige Oper "Das stumme Waldmädchen" vollendet, die am 24. November 1800 zu Freiberg in Sachsen aufgeführt wurde. Der Text hatte der Direktor der dortigen Schauspielertruppe, Carl von Steinsberg, nach einem der damals beliebten Ritterromane geschrieben. In dieser Form wurde die Oper 1804 unter dem titel "Das Mädchen aus dem Spessartwalde" in Wien 14 Mal aufgeführt. Als Weber nach seinem Aufenthalt als Intendant des Herzogs von Württemberg im oberschlesischen Karlsruhe nach Stuttgart übergesiedelt war (1807), ging er daran, sein Jugendwerk vollständig umzugestalten. Franz Carl Hiemer, der sich als Uebersetzer französischer Operntexte einen Namen gemacht hatte, entwarf "nach dem Sujet des früheren Waldmädchens", wie Weber selbst erzählt, einen neuen Text, zu dem C. M. v. Weber 20 Musiknummern komponirte. Trotzdem zahlreiche Bühnen diese neue Oper – es war nach "Peter Schmoll" und „Rübezahl“ die fünfte in der Reihe der Weber’schen Opern – aufführten (zuletzt 1858 die Kroll’sche Bühne). gerieth die Oper doch allmählich in Vergessenheit und wurde schliesslich ganz zurückgelegt.
Die Neubearbeiter der Weber’schen Silvana, E. Pasqué und Ferd. Langer, glaubten, es sei an diesem Geschick einzig und allein der Text schuld gewesen, der auch in der Hiemer’schen Bearbeitung den "Ritterromanen von Kramer, Spiess und Konsorten" allzu nahe stand. Um nun "jenes bedeutsame Werk des Lieblingskomponisten unserer Nation den deutschen Bühnen und ihrem Publikum wiederzugewinnen", wurde zu der alten Musik eine neue Handlung ersonnen. Ein solches Unterfangen mag immerhin, wenn man die Beweggründe dazu nicht gründlich und ernst erwägt, auf den ersten Blick als ein tolkühnes und unerhört dreistes Unternehmen scheinen. Steht man man doch bei dem 22jährigen Komponisten der Silvana bereits einem denkenden Künstler gegenüber, der, wenn auch noch nicht vollkommen von der Alleinherrschaft, der absoluten italienischen Opernmusikmacherei befreit, doch unverkennbar bereits das Bestreben zeigt, die Musik wirklich dramatisch zu gestalten, sie aus dem Texte ¦ wiedergeboren werden zu lassen. Aber die Bearbeiter können als Beweis der Berechtigung ihrer Neubearbeitung zunächst die Thatsache anführen, dass Weber selbst den ursprünglichen Steinsbergschen Text umgestalten liess. Dem wäre freilich zu erwidern, dass die Stuttgarter Oper völlig neu komponirt war, und dass von der ursprünglichen Freiberger Oper des 14 jährigen Weber nur zwei kurze Bruchstücke erhalten sind. Des weiteren ist aber die Methode und der Plan, nach welchem Pasqué und Langer ihre Arbeit einrichteten, im Allgemeinen durchaus anerkennenswerth. Sie waren mit grosser Sorgfalt darauf bedacht, in der neuen Oper Situationen zu schaffen, in die man 20 Musiknummern der Weber’schen Silvana, ohne ihnen allzugroße Gewalt anzuthun, hineinpassen konnte; ein Verfahren, was um so angänglicher schien, als die Weber’sche Silvana-Musik ja noch nicht in dem Grade persönlich charakterisirend ist, dass, was das "Hiemer’sche Waldmädchen" zu singen und zu sagen hat, nicht auch hie und da für die "Pasque’sche Silvana" passen konnte. Es behielten also dementsprechend ein Theil der Musikstücke der Weber’schen Oper ihren originalen Text bei, wenngleich die Reihenfolge derselben auf den Kopf gestellt werden musste. Trotz alles dessen war der neue Stoff dem alten nicht so kongruent, dass er genau und ohne Rest in den 20 Musiknummern Weber’s aufgegangen wäre. Sich so vollkommen nach der vorhandenen Decke zu strecken, mochte dem neuen Textbearbeiter nicht gelingen und wichtige Momente der neuen Handlung blieben musikalisch „unbedeckt“.
In dieser Noth sprang hilfsbereit der musikalische Bearbeiter seinem Kollegen bei und die zu kurze musikalische Decke wurde durch Anstückelung Weber’scher Lieder, die sich leicht und gut in die Situatuion einfügten, ferner durch Verwendung beliebter Melodien verlängert. So kamen denn in die neue Oper der herrliche Anfang der As-Dur-Sonate, das Hauptmotiv aus dem 2. Satze derselben Sonate, das zum Feentanz wie geborene, sogenannte "Perpetuum mobile" aus der C-dur-Sonate, die Es-dur-Polonaise und last not least, die unverwüstliche "Aufforderung zum Tanz".
Ich gestehe offen, dass mir diese letztere Art „Neubearbeitung“ nicht über alle Zweifel und Bedenken erhaben scheint. Diese Pasqué-Langersche Silvana wird gegen das ursprüngliche Weber’sche „Gesellenstück“ immerhin eine Flickarbeit bleiben, während jenes trotz allem ein einheitliches Ganzes ist, wenngleich es kein Meisterstück, noch viel weniger, seines ungeschliffenen Textes wegen, ein Musterstück sein kann. Es ist eine Jugendarbeit, an die man einen andern Maasstab anlegt, als an ein künstlerisch ausgereiftes Werk. Beethoven’s C-dur-Sinfonie – und die 9.! Mozarts Davidde penitente und das Requiem! Wohl muss zugestanden werden, dass einzelne Lieder Weber’s mit grossem Geschick in die Situation verflochten sind, und dass der Uebergang oft ganz unmerklich vor sich geht; ich erinnere z.B. an den Schlussgesang der „Fee“ im 3. Akt, zu dem das Weber’sche „Schlummerlied“ verwendet ist. Ich bestreite auch keineswegs, dass die verbindenden Rezitative mit sehr grossem Geschick und feinem, künstlerischem Sinn im Weber’schen Style gesetzt sind und dass sie den Wüllner’schen Oberon-Rezitativen nicht allzu sehr nachstehen; ich verkenne ferner keineswegs die ausserordentliche Sorgsamkeit und die über alles Lob erhabene Pietät des musikalsichen Bearbeiters gegen Carl Maria von Weber; aber ich kann mir es nicht verhehlen, dass all’ jene oben erwähnten Zusätze die Einheit und Echtheit des Weber’schen Werkes stellenweise erbarmungslos vernichten und den Gesamteindruck demjenigen wenigstens einigermassen stören müssen, für den Weber’s Lieder, die Klaviersonaten, nicht ganz eine "terra incognita" sind.
Doch ich halte schliesslich selbst dies nicht für den grössten Fehler, an dem die Pasqué-Langer’sche Bearbeitung leidet: viel schlimmer müsste man zunächst mit dem musikalischem Bearbeiter wegen des Attentates auf die Weber’sche Instrumentation ins Gericht gehen. Mag Weber, wie in der Einführung zu der neuen Bearbeitung S. 5 gesagt ist, auch "in seinen späteren Partituren sich vollständig von alten Mustern losgesagt haben," eine Aenderung war trotzdem, wie es ebenda heißt, aus diesem Grunde noch keineswegs „geboten“. Wer möchte ähnliches in einer Mozart’schen oder Beethoven’schen Jugendarbeit gutheissen? Diese Instrumentations-Retouchen beeinträchtigen die Echtheit des Werkes; dem Laien freilich minder oder gar nicht, desto empfindlicher aber dem Kenner. Aber es scheint eben (und dieser Vorwurf trifft beide Bearbeiter zugleich), als ob man danach gestrebt hätte, aus Silvana eine Zugoper ungefähr im Stile der grossen französischen Oper zu machen; daher denn auch die überreichen Ballett-Einlagen, der Aufwand von Tänzen, Feerien und ähnlichen Effekten, daher der Appell in erster Linie an das Publikum, das, leichtgläubig wie es ist, sich ja schließlich einreden lässt "Gute Nacht, du mein herziges Kind" sei aus dem "Postillon von Lonujumeau", – weil man diesen Abt’schen Bänkelsang eben nur da mit solcher „Aplomb“ und mit solcher Regelmässigkeit zu hören bekommt.
Das Beispiel hinkt insofern, als ich den Bearbeitern selbstredend auch nicht im Entferntesten den Vorwurf einer derartigen Geschmacklosigkeit zu machen habe. Ihre Arbeit ist vielmehr bis auf einige Vorstehendem dargelegte Einzelheiten durchaus anery|kennenswerth, stellenweise sogar vorzüglich geschickt und wirkungsvoll; sie ist keine "verlorne Liebesmüh", und kann es schon deshalb nicht sein, weil sie von herzlicher Pietät gegen den Meister getragen war und einen bedeutenden Mangel der alten Oper, das schlechte Textbuch, durch ein wenn auch nicht in allen Stücken vollkommenes, so doch annehmbares Textbuch beseitigt hat.
Und schliesslich schwindet auch die letzte Falte auf der Stirn des rigorosen Kunstrichters, wenn er sich von Anfang bis zu Ende so überaus gelungenen Darstellung des Werkes auf der Krollschen Bühne am Donnerstag d. 18. Juli erinnert. Es war ein Ehrenabend für sämtliche an der Aufführung Betheiligte, so anregend und zum Theil den Zuschauer bewegend, wie ich mir nur weniger Abende aus der verflossenen Berliner Winter-Saison erinnern kann. Was Herr Direktor Engel als Regisseur auf seiner kleinen Bühne zu leisten versteht, ist oft genug laut und warm anerkannt worden. Mit der Inscenirung der „Silvana“ hat er auch die höchsten Erwartungen übertroffen. Scenische Bilder wie die Waldeinöde mit der Höhle der Silvana im ersten Akt, die Verwandlung am Schluss des dritten Aktes prägen sich unvergesslich ein. – Aber auch für die Darsteller habe ich nur Worte uneingeschränkten Lobes. Herr Kapellmeister Ruthardt* hatte das Werk, das bei der ersten Aufführung ohne Kürzung gegeben wurde, mit liebevollster Sorgfalt und feinem, echt künstlerischem Gefühl, das ihm wie wenigen Kapellmeistern eigen ist, einstudirt. Frau Hadinger gab die Titelparthie mit einer Anmuth in Erscheinung, Spiel und Gesang, die einen unwillkürlich fesselnden Eindruck ausübte. Herr Dr. Basch sang und spielte den alten Köhler gleich vortrefflich; Frau Heink war als Wildweibchen, wie als Waldfee und fahrender Singer ausgezeichnet, und die Herren Heller (Rheingraf) und Cronberger (Gerold) durchaus tüchtig. Mit den Solisten waren Chor und Orchester auf das erfolgreichste bestrebt, ihr Bestes zu bieten, so dass die ganze Aufführung einen tiefen, lange nachhaltenden Eindruck hinterliess.
Heinrich Reimann.
Apparat
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Blümer, Simon
Überlieferung
-
Textzeuge: Allgemeine Deutsche Musik-Zeitung, Bd. 16, Heft 31–32 (1. August 1889), S. 327–328
Einzelstellenerläuterung
-
„… uneingeschränkten Lobes. Herr Kapellmeister Ruthardt“Julius Ruthardt (1841–1909).