Aufführungsbesprechung Karlsruhe, Großherzogliches Hoftheater: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 27. Juni 1822
Karlsruhe, Ende Juni, 1822.
Vor Kurzem wurde uns das Vergnügen zu Theil, den K. baierischen Hof- und Kammersänger Hrn. Löhle als Gast in mehreren Rollen bei uns auftreten zu sehen. Obschon der vortheilhafteste Ruf diesem wackern Sänger vorangeeilt war, so wurden demohngeachtet unsere Erwartungen bei weitem übertroffen, und schon bei seiner ersten Gastrolle als Joseph, in Jakob und seinen Söhnen, wußte er sich den allgemeinen Beifall des Publikums in dem Maaße und so ungetheilt zu erwerben, wie solches seit Wilds Auftreten keinem Gaste mehr gelungen war. Bei seinem ersten Auftritt als Joseph war das Haus zum Ersticken angefüllt, und da derselbe eine sehr schwierige Aufgabe zu lösen hatte, in einer Rolle zu gefallen, die man unter die vorzüglichsten unseres trefflichen Weixelbaums rechnen darf, so war der Ruhm, den er sich erwarb, um so glänzender und verdienstvoller für ihn. Mit größter Spannung war Jedermann begierig, die ersten Töne zu vernehmen, die kraft- und klangvoll an unser Ohr schlugen, und das Publikum in den höchsten Enthusiasmus versezten, welchen es durch einen rauschenden Beifall auszudrücken bemüht war. Dieses Entzücken wurde so sehr gesteigert, daß der verdienstvolle Künstler in dieser, wie in allen nachfolgenden Rollen, durch anhaltendes Beifallklatschen und Rufen zum Wiederholen der vorzüglichsten Partien aufgefordert wurde, welchem Wunsche derselbe mit der anspruchlosesten Gefälligkeit jedesmal zu entsprechen bereitwillig war. Am Schlusse der Vorstellung erschien derselbe auf einmüthiges Verlangen und sein bescheidener Dank wurde durch mehrere Stimmen, die anhaltend „Freischütz“ riefen, unterbrochen. Derartige Aeußerungen waren in unserm Theater, das von den höchsten Herrschaften besucht wird, früher noch nie vernommen worden, und zuverlässig Ausbrüche einer ungewöhnlichen Begeisterung.
Zum zweitenmal trat Hr. Löhle als Sargines auf. In dieser Rolle, wie auch als Johann von Paris, womit er uns in seiner dritten Gastrolle hohen Genuß verschaffte, hatte sich derselbe, bei ganz vollem Hause, wo möglich, eines noch größern Beifalls wie das erstemal zu erfreuen, und das Publikum wurde durch seine reine metallreiche Bruststimme und seinen lieblichen Vortrag so sehr bezaubert, daß man nur allgemein bedauern hörte, daß dieser vortreffliche Sänger so schnell aus unserer Mitte scheiden wolle. Beidemal erschien ¦ Hr. L. am Schlusse der Vorstellung wieder auf allgemeinen Ruf. Sehr wünschenswerth wäre es gewesen, ihn mit Hrn. Weixelbaum, dem Virtuosen unserer Oper, der als Künstler Hrn. L. gleichkommen, in Wohlklange der Stimme ihm aber nachstehen dürfte, wetteifern zu sehen, welches aber, aus was für einem Grunde ist nicht bekannt, unterblieb. Dagegen hatte die Großh. Hoftheater-Intendanz die Gefälligkeit, dem allgemeinen Wunsche des Publikums darin zu entsprechen, daß sie Hrn. L. nach seiner Zurückkunft von Baden, wohin sich derselbe auf kurze Zeit begeben hatte, als Max im Freischützen auftreten ließ. Diese Rolle war bisher das Monopol eines Sängers, der auf diesen Namen eigentlich keinen Anspruch machen kann, und dem wir, wenn man seiner musikalischen Kunstfertigkeit auch Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, dennoch jedes Verdienst für die Oper (da es seiner Stimme ganz an Klang gebricht) absprechen müssen.
Ein Meisterwerk wünscht man meisterhaft ausgeführt zu sehen. Außerordentlich war daher der Zudrang zu dieser auf den 27. Juni angekündigten Oper. Schon den Tag zuvor konnte man keinen einzigen Logenplatz mehr erhalten, und am Tage der Vorstellung war der Platz vor dem Schauspielhause um halb 4 Uhr mit Spatziergängern beiderlei Geschlechts reichlich besäet, die sich gleich einem wogenden Strome zur Kasse, die um 4 Uhr geöffnet wurde, drängten, und dieses Herbeiströmen nahm in dem Maaße zu, daß gleich nach 5 Uhr beinahe kein Platz mehr auf dem Parket zu finden war, und ein großer Theil mit den Parket-Billets sich auf die obern Gallerien flüchten mußte.
Das schöne Geschlecht, welches diesem ausgezeichneten Sänger seine Gunst in reichlichem Maaße geschenkt, hatte in bunter Menge das Parket und die Logen geziert, und war zum Theil mit Lektüre und Handarbeiten versehen, womit es die lange Pause bis zum Anfange des Stückes ausfüllte.
Hatte diese Oper früher gefallen, so brachte sie diesmal eine nicht zu schildernde Wirkung hervor; ein neuer Zauber schien das Orchester, wie die Mitspielenden zu beleben, und die Chöre wurden durch den unermüdeten Eifer und das rastlose Bemühen unseres trefflichen interimistischen Chordirektors, Hrn. Berger, ausnehmend gut ausgeführt. Hr. L. schien sich heute selbst die Meisterschaft abgewinnen zu wollen. Mit zauberischer Anmuth sang er die Arie des ersten Aktes: „Durch die Wälder, durch die Auen,“ aber unübertrefflich erschien er uns auf dem Felsen der Wolfsschlucht, wie sein herrliches, kräftiges Organ, über das höllische Toben des Orkus, der | ihn mit all seinen Schrecken umgab, siegend, klar und herrlich über der in verworrenen Fugen und wilden Gängen brausenden Orchesterbegleitung schwebte. Mit Leichtigkeit löste er die schwierigen Aufgaben dieses Rezitativs, doch einmal schien ihm seine Stimme zu versagen, welche Schuld wir aber geneigt sind, eher dem sonst einzigen Kompositeur, als dem Sänger beizumessen, weil in jenem Augenblicke Szenerei und verstärktes Akkompagnement das Durchgreifen der kräftigsten Stimme selbst, beinahe unmöglich machen.
Ohnstreitig gehört diese Oper zu den originellsten und karakteristischsten Produktionen vaterländischer Tonsetzer, und doch vermissen wir auch hier das Ideal, was wir uns von der ernsten Oper vorgezeichnet haben, worin Drama in gleicher Vortrefflichkeit mit Musik fortschreiten soll, worin Süjet, Zweck und Töne Mittel sind, die Handlungen unserer Helden zu verherrlichen und zu idealisiren. Inwiefern nun diesen Anforderungen hier entsprochen wird, überlassen wir der Beurtheilung der Kunstverständigen und fragen nur, ob der Held dieser Oper im Stande ist, das Interesse rege zu machen, und ob die Erscheinung eines siegenden geistlichen Herrn der Entwicklung nöthig sey, und nicht vielmehr störend auf den Effekt der herrlichen Schlußszene macht?
Daß aber unser Held, Hr. Löhle, dieses Interesse erregt habe, kömmt gewiß auf Rechnung seiner ganz ausgezeichneten Kunstfähigkeiten. Wir reichen ihm die Sängerkrone und wissen Keinen, der ihm die Suprématie streitig machen könnte. Mit einer Stimme, die jedes Ohr besticht, verbindet derselbe, was bei einem Sänger so selten gefunden wird, ein recht braves gerundetes Spiel, und bei allen Singpartien, sey es Rezitativ oder Arie, entgeht dem Publikum keine Silbe, wodurch er dem Vorwurfe, daß unsere vaterländische Sprache dem deutlichen Vortrage hinderlich sey, aufs Kräftigste begegnet.
In seinen Bemühungen wurde Hr. L. von unsern vorzüglichen Sängerinnen, Mesdames Gervais und Sehring, aufs Löblichste unterstüzt. Leztere, das liebliche Annchen und der Liebling des Publikums, sang mit ihrer reizenden Silberstimme zum Entzücken, und wir können hier nicht umgehen, auf den ausgezeichneten Werth dieser Künstlerin aufmerksam zu machen.
Daß Hr. L. am Schlusse gerufen wurde, war eine natürliche Folge seiner Vortrefflichkeit. Doch schätzbarer als solche Kränze, die ihm überall reichlich gewunden werden, möge ihm das Bewußtseyn unseres freundlichen Andenkens seyn und der lebhafte Wunsch für sein baldiges Wiedersehn, der sich so unverkennbar im Publikum ausgesprochen hat.
HR.Apparat
Zusammenfassung
Aufführungsbesprechung Karlsruhe, Großherzogliches Hoftheater: „Der Freischütz“ und Carl Maria von Weber am 27. Juni 1822
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Überlieferung
-
Textzeuge: Charis. Rheinische Morgenzeitung für gebildete Leser, Jg. 2, Nr. 10 (20. Juli 1822), S. 1–2