Friedrich Wilhelm Jähns an Robert Musiol in Röhrsdorf
Berlin, Dienstag, 21. Januar 1879

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Lieber, aufmerksamer Freund!

Wahrscheinlich zur selben Stunde haben wir heut Brief voneinander gehabt. Gestern sendete ich mit einem von mir die beiden Riedelschen zurück* und Sie leuchteten wieder gütig u. mich erfreuend in meine jetzt wirklich recht dunkle Camera Weberiana hinein. Es wird mir eine rechte Freude sein, den erwähnten Band, vielleicht bei Rücksendung des „Klöden“, einsehn zu können. – Haben Sie recht schönen Dank! – Max v. W. brachte mir übrigens von seinem letzten Aufenthalte in London ein italienisch-englisches Textbuch des Freischütz mit (London, Davidson u. C.) in dem ebenfalls statt Max u Agathe ein Rodolf agirt*. Auf Ihr Buch* bin ich auch wegen der Eremiten-Sache sehr neugierig. Eine tolle Nachricht brachte mir einer meiner alten Schüler, den ich vorgestern zufällig in einer Gesellschaft traf, indem er mir mittheilte, er habe vor einiger Zeit im hiesigen Fremden-Blatt die Notiz gefunden, daß die | richtigste u. aller vollständigste Partitur des Freischütz die des ungarischen Nationaltheaters in Pest sei, die, nach Káldy’s Mittheilungen aus eben dieser Partitur, doch die entstellteste u. spoliirteste ist, die zu denken. Ist doch der ganze Eremit u. sind doch 154 Tacte aus dem Finale III gestrichen. Mein alter Schüler wird nachsuchen, wo im Fremdenblatt jene Nachricht steht* – bis dahin habe ich von Káldy vielleicht Nachricht über die alte Partitur am deutschen Theater zu Pest. – Dann werde ich vielleicht einen gründlichen Artikel in der hies. Mus. Ztg. schreiben. Weber schrieb 1821 über die entsetzliche Entstellung des Freisch. in Wien damals irgend Jemandem (ich glaube Lichtenstein) „Das ist da ein entsetzlicher Mantsch mit dem Freischützen* u. nach 58 Jahren muß man heut dasselbe in verstärktem | Sinne über den Pester Freischützen ausrufen. – Das Reissmannsche Lexikon hat in letzter Zeit sich recht gut herausgemacht u. das freut mich. Er hatte jedenfalls einen schweren Stand u. eine kolossale Arbeit. Hätte er nur jenen höchst zu mißbilligenden Ausfall gegen Sie nicht vollführt! Solch große Arbeit übernimmt man doch nicht des Gewinnes wegen, u. das Honorar steht nicht entfernt gleich mit der Leistung, u. so arbeitet man denn für die Kunst u. den eignen Namen. Schade daß der Mann nach aller seiner Arbeit kaum mit rechter Freude wird darauf zurücksehen können, wenn er an jenes Blatt denkt, was er gegen Sie erließ, denn es kann ihm nicht unbekannt geblieben sein, wie sehr er gegen sich selbst eine große Eingenommenheit hervorrief. Trotz aller Härten, die er sich seinerzeit gegen Sie u. mich erlaubt, thut er mir deshalb jetzt leid, wo er am Ende seiner | jedenfalls großen u. mühevollen Arbeit angekommen ist. Ich habe ihn sehr lange nicht gesehen; als ich ihn das letzte Mal sah, sah er sehr angegriffen aus. – Die Sache zwischen Ihnen u. Riedel ist nun wohl ganz aus. Nun, Sie können Sich trösten. Ihre Saat wird schon noch aufgehen, darüber bin ich ganz beruhigt, oder vielmehr sie ist schon aufgegangen u. die grünen Halme schmücken schon das Feld der Kunst u. Ihr stilles glückliches Wirken. Mir ist, als ob die Ernte für Sie nicht allzu ferne wäre. Wenn unsichere Leute kommen u. in Ihre blühendes Feld hineinregnen u. hineinblasen, um es vor der Zeit einzufahren, so stehen Sie nur steif u. fest gegen solches Gebahren! – Mich hat diese Geschichte förmlich aufgebracht. Gelegentlich erzähle ich Ihnen ein ähnliche Geschichte aus meinem Leben. Mich wollte man auch einmal vor der Zeit einfahren, aber ich that dem klugen Mann den Gefallen nicht.

Treu der Ihre F. W. Jähns

Es ist wunderlich, immer will ich recht kurz schreiben an Sie, wenn nicht grade viel vorliegt, weil ich zum „lang“ doch eigentlich gar keine Zeit habe – u. nun schrieb ich doch, besser verbrach ich doch wieder 4 Seiten. Ja, ich bleibe – ein Ungeheuer!

Ihr nächster Brief an mich ist der 80ste!

Apparat

Zusammenfassung

hat von Max Maria von Weber ein italienisch-englisches Tb zum Freischütz bekommen; Jemand hat ihm erzählt, dass im Fremdenblatt gestanden habe, dass die richtigste u. vollständigste Partitur des Freischütz diejensige im ungarischen Nationaltheater sei; J. will der Sache nachgehen und einen Gegenartikel schreiben; äußert sich anerkennend über die Reißmannsche Lexikon-Arbeit

Incipit

Wahrscheinlich zur selben Stunde haben wir heut

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Frank Ziegler

Überlieferung

  • Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Signatur: Weberiana Cl. X, Nr. 1001 (J 78)

    Quellenbeschreibung

    • 1 DBl. (4 b. S. o. Adr.)

Textkonstitution

  • „u Agathedurchgestrichen
  • „alten“über der Zeile hinzugefügt
  • „vorgestern“über der Zeile hinzugefügt
  • „Tacte“über der Zeile hinzugefügt
  • „… er Freischützen ausrufen. – Das“ß korrigiert zu s
  • „gegen“über der Zeile hinzugefügt
  • „deshalb“unter der Zeile hinzugefügt
  • „e“durchgestrichen
  • „… “Ergänzung am oberen Rand:
  • „… “Ergänzung am linken Rand:

Einzelstellenerläuterung

  • „… die beiden Riedel schen zurück“Korrespondenz mit Prof. Carl Riedel bezüglich einer von Musiol ursprünglich erhofften Anstellung in Leipzig; vgl. Musiols Brief vom 16. Januar 1879.
  • „… u Agathe ein Rodolf agirt“Das Exemplar befindet sich heute in D-B, Weberiana Cl. VII, Bd. 79.
  • „… agirt . Auf Ihr Buch“Eine englische Ausgabe aus Baltimore von 1874; vgl. Musiols Brief vom 20. Januar 1879.
  • „… im Fremdenblatt jene Nachricht steht“In Nr. 6 vom 8. Januar 1879.
  • „… entsetzlicher Mantsch mit dem Freischützen“Jähns erinnerte sich falsch; der Brief ging am 22. September 1820 an Kind und bezog sich auf Berlin, nicht Wien. Im Brief an Lichtenstein vom 18. Oktober 1821 bezüglich der Wiener Zensurfassung des Freischütz findet die Formulierung keine Verwendung.

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