Aufführungsbesprechung Dresden, Linkesches Bad: „Die Freistatt“ von Ernst Freiherr von Houwald am 24. Juni 1819 (Teil 1 von 2)
Donnerstags, den 24. Juni. Am Tage Johannis des Täufers. Auf dem Bade. Zum Erstenmal: Die Freistatt, eine tragische Situation in einem Akt, von Ernst Freiherr von Houwald.
Wir hatten in der vorhergehenden Woche die Heimkehr von eben diesem Dichter gesehen. Alles was wir in einer frühern Anzeige von der allgemeinen Rührung, die dieß Stück erregte, und von der ergreifenden Wahrheit, womit es dargestellt wurde, anzuführen Gelegenheit hatten, galt auch von dieser Vorstellung. Aber eine sehr glückliche Aenderung, welche der feinfühlende Dichter am Schlusse angebracht und dadurch das Zartgefühl der Frau von zwei Männern noch mehr geschont hat – es bleibt ihr nun verschwiegen, daß der erste Mann den Giftbecher trank – erhielt zugleich allgemeinen Beifall. Die Situation selbst wurde durch den meisterhaften Ausdruck, womit Hr. Werdy diese Sterbescene gab, noch tragischer. Niemand würde nun den frühern Schluß noch mit ansehen wollen. – Auch die Freistatt, welche heute gegeben wurde, zeigte den Beruf des Dichters für’s Trauerspiel. Wir kennen aus der Geschichte des 30jährigen Kriegs den Tilly vor der Schlacht von Leipzig in der Hütte des Todtengräbers. Hier wird die Doppelleiche eines nur verkappten Todtengräbers und seiner Frau in der Leichen-Halle auf dem Begräbnißplatze zugleich Freistatt vor den Tigerkrallen des Tyrannen und – was dem Ganzen den Kranz aufsetzt – ernster Traualter der wiedervereinigten Gattenliebe von zwei Lebenden. Und, was wohl am meisten gerühmt werden sollte, das Abentheuerliche, fast Unglaubliche dieser Situation wird durch die geschickte Behandlung des Dichters und durch die Erinnerung an eine Zeit, die wir alle erlebt haben, glaubwürdig und ergreift uns so mit doppeltem Schauer. Aber drei Scenen können freilich noch für kein eigentliches Stück angerechnet werden. Der Dichter will es daher auch nur eine Situation genannt haben. Als solche macht es aber vielleicht beim Lesen, wo die geschäftige Fantasie alles weit mehr ausmalt und motivirt, noch lebendigern Eindruck, als wenn es auf der Bühne selbst in Raum und Zeit beschränkt vor unsern Augen dasteht. Daher das Geständniß vieler, daß sie sich beim Lesen noch tiefer ergriffen gefühlt hätten, als in der verwirklichten scenischen Wahrheit. Den Inhalt dürfen wir als allgemein bekannt voraussetzen. Wer hat nicht den dritten Jahrgang von Müllner’s reichem Almanach für Privatbühnen gelesen? Das Stück fängt damit an, womit sonst alles endet. Aufgebaart in einer Todtenhalle liegt eine Leiche, die wir doch erst, wenn der innre Vorhang weggezogen ist, erblicken. Vorn ist die Wohnung des Todtengräbers. Der Dichter hat dabei allerdings an unsre Leichenhäuser gedacht, welche die Furcht vor dem Lebendigbegraben seit 30 Jahren bei uns eingeführt hat. Die Stelle, wo der Todtengräber die Klingel-Schnur der Leiche in die Hand giebt, und die beziehungvollen Verse, die mancher nur aus Mißverständniß witzig nennen konnte,
¦ Und ist das Trauerspiel noch nicht zu EndeUnd kommt ein neuer Akt – so klingle nur!sind nur durch diese Annahme bedingt. Doch ist uns bei der Aufführung selbst mancher Zweifel dagegen aufgestoßen. Es kann leicht störend werden und derb an’s Komische streifen. Dazu ist es durchaus rathsam, daß das Stück in alterthümlichem, reichsstädtischen Costüm gespielt werde. Es macht nur so Wirkung. Wer möchte es in moderner Kleidung ertragen? Es wurde daher auch bei uns darin gegeben. Nun aber entsteht ein unvermeidlicher Zwiespalt zwischen alter und neuer Zeit. Wir stellen es dem Ermessen des Dichters anheim, ob er nicht diese einzige Stelle abändern wolle. Alles andre kann bleiben. Denn Leichen sind von jeher auch wohl vor der Bestattung auf den Kirchhöfen über der Erde aufbewahrt worden. Sehr zu billigen war auch die leise Abänderung am Schluß, wo bei der Aufführung der feindliche Hauptmann nur das Haupt entblößt, die Wache aber nicht ins Gewehr treten läßt und auch den Degen nicht auf die Leiche legt. Auch die tiefste Rührung würde diese Abweichung von der Pflicht nicht entschuldigen können.
Die Darstellung selbst wurde mit großem Fleiße von unsren vorzüglichsten Künstlern ausgeführt. Hr. Hellwig hatte die Rolle des geächteten Patrioten übernommen, der nun als Johannes Bruck den Todtengräber und Leichenwächter macht, Hr. Julius machte den Senator Conrad von Ulstrade, Mad. Schirmer die Frau desselben, Sara von Ulstrade. Es gereichte Hrn. Werdy zur Ehre, daß er die ganz unbedeutende Rolle des Officiers am Schlusse mit eben der Aufmerksamkeit ausführte, als wäre es die erste im Stücke. Möge die oft murrende Rollensucht sich ein Beispiel daran nehmen! Hr. Hellwig spielte mit tiefem Gefühl und hatte den Geist seiner Rolle vollkommen gefaßt. Nur im Einzelnen hätten wir hier und da noch mehr Oekonomie des Spiels und Aufsparen der Kraft auf die entscheidenden Augenblicke gewünscht, wo er stirbt. Der Ausruf beim Zurückbeben, als er in der Entschleierten seiner Frau Züge entdeckt: „Was ist das? Tod, willst du mich hier belügen“, wurde durch irgend eine Störung oder Hemmung der Kraft dießmal nicht erschütternd genug vorgetragen. Vielleicht übermannt ihn auch das zu stark aufgeregte Gefühl mehr, als die Besonnenheit der Kunst billigen kann. Dagegen schien uns gleich vorn in der Unterredung mit Sara manches so stark aufgetragen, daß eine Steigerung nicht wohl möglich war. Das gelungenste in seinem durchaus sehr gemüthlichen Spiel war der schöne zweite Monolog und die Spitze des Ganzen die begeisterte Vision von einem bessern Zeitalter. Aber auch das vergeistigte Emporschauen zu Elenoren, die seiner am Stralenthor der Ewigkeit harre, wurde sehr brav durch die gen Himmel gehobenen Hände und durch malerische Miene und Stellung ausgedrückt. Die kleine Rolle, wenn sie erst ganz gerundet dasteht, muß ein Triumph des wackern Künstlers werden.
(Der Beschluß folgt.)
Apparat
Zusammenfassung
Aufführungsbesprechung Dresden, Linkesches Bad: „Die Freistatt“ von Ernst Freiherr von Houwald (Teil 1 von 2). Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.
Entstehung
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Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Überlieferung
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Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 3, Nr. 161 (7. Juli 1819), Bl. 2v