Eduard Thiele to Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
Dessau, Sunday, April 9, 1876

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Hochzuverehrender Herr & Freund!

Mit grösstem Interesse habe ich das Resultat Ihrer Forschungen in Betreff der Partituren „Freibrief“ und „Verwandlungen“ gelesen und bewundere nicht allein Ihr systematisches Vorgehen in der Sache, Ihre Schärfe und Gründlichkeit in der Beurtheilung, sondern vorzugsweise auch Ihre zähe Ausdauer; hätten Sie nur eine entfernte Ahnung gehabt, daß wir in dem Besitze genannter Partituren sind, welche kostbare Zeit und Mühe hätten Sie ersparen können! Aber so ist es – man vermuthet dergleichen Raritäten nicht in den Bibliotheken kleiner Fürsten und dennoch bewahren wir höchst interessante Sachen aus den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts. Der damalige Herzog Franz, ein wahrhafter Protector aller Künste (Zeitgenosse und specieller Freund Karl August’s von Weimar, Goethe’s pp) dem wir nebenbei die herrlichen Umgebungen Dessau’s danken, hatte schon sein eigenes Hoftheater und eine eigene, wenn auch kleine Hofkapelle; leider mußte er zu Anfang dieses Jahrhunderts der bedrängten Kriegszeiten wegen das Theater aufgeben*; das | Hoftheatergebäude mit selten schöner Akustik brannte 1853 bis auf den Grund nieder – die Opernbibliothek wurde glücklicherweise vollständig gerettet. Wenn es Ihnen Freude macht und es zu Ihren Forschungen dienen kann, mache ich Ihnen gelegentlich aus dem Cataloge von den alten Opern einen Auszug, die wohl schwerlich noch im Musikhandel vorhanden sind und die mir wenigstens früher ganz unbekannt waren, darunter einactige und mehractige von Componisten mit bedeutendem Namen (besonders französischen) z: B: Berton, Desaides, Duny, Blaise, Dumonchon, Isouard, Gretry, Gavaux D’Alairac, Gluck, Monsigny; dann auch Abt Vogler, Piccini Anfossi, Tutzeck, Neefe, Martin, Cherubini, Boildieu, Bierey, Benda, Paer, Paesiello, Süssmeier, Salieri, Sarti, Schuster, Winter, Holly pp: Zum großen Theile sind diese Opern in vollständigen Auflagestimmen vorhanden; sie sind also aufgeführt. Leider fehlen die Theaterzettelbücher aus der damaligen Zeit, doch finde ich sie vielleicht noch in der Bibliothek des Herzogliches Hauses. Wenn Sie also, wie gesagt, von einem Auszuge des Catalogs Gebrauch machen können, so sehen Sie mich zu jedem Augenblick zu Ihren Diensten bereit.

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Zu unerfahren auf dem Gebiete der historischen und kritischen Forschungen, wie Sie dieselben mit besonderer Vorliebe pflegen, würde es anmaßend und lächerlich erscheinen, wollte ich mir über Ihre Resultate ein Urtheil erlauben; die Vergleiche und Untersuchungen sind von Ihnen mit einer so bewundernswerthen Klarheit und Gewissenhaftigkeit angestellt, dass ich mich alles Weitern enthalte und (um mit Ihnen zu reden) nur „nicken“ will, wie vordem die Gerichtsschöppen, wenn der gestrenge Herr Bürgermeister seinen Willen durchsetzen wollte! Eben fällt mir ein: kann Ihnen denn das geschriebene Soufflirbuch vom „Freybrief“, welches auch vorhanden, nichts nützen? Noch wollte ich Ihnen sagen, dass wir hier in dem Fabrikanten Meinert einen berühmten Autographensammler haben, in dessen Sammlung alle berühmten Componisten der Vor- und Jetztzeit, zum Theil mit Manuscripten vollständiger Werke vertreten sind. (Dies nur zu Ihrer Notiz!)
Wenn Sie vielleicht an Martha schreiben sollten, so grüßen Sie dieselbe herzlich von uns und theilen Sie ihr gefälligst mit, dass wir durch den plötzlichen und unerwarteten Tod den 4ten April der Frau Geheimrath Öchelhäuser* in die tiefste Trauer versetzt sind; | in dem Kreise dieser liebenswürdigen, kunstsinnigen und hochherzigen Familie hat auch Martha mit uns zusammen die glücklichsten Stunden verlebt – sie war dort ein großer Liebling. Für mich und meine Frau* ist der Verlust nie wieder zu ersetzen, denn die nun verödete Familie bildete eigentlich unsern einzigen Umgang und was die Stadt, was namentlich die Armen und Nothleidenden an der herrlichen Frau verlieren, mögen Sie daraus entnehmen, daß dem Leichenzuge gegen 6000 Menschen aus allen Ständen folgten.

Leben Sie wohl und indem ich Sie bitte mich und meine Frau Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlen, habe ich die Ehre mit Hochachtung zu zeichnen Ihr ganz ergebener
Ed: Thiele

Editorial

Summary

dankt ihm für die Mitteilung des Resultates von J’s Forschungen zum Freibrief, erzählt ihm von der wertvollen Herzoglichen Opern-Bibliothek und nennt ihm Komponisten, die darin vertreten sind, bietet ihm das Soufflierbuch zum Freibrief an; nennt ihm den Fabrikanten Meinert, der eine hervorragende Autographensammlung besitzt

Incipit

Mit größtem Interesse habe ich das Resultat

Responsibilities

Übertragung
Frank Ziegler

Tradition

  • Text Source: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Shelf mark: Weberiana Cl. IV B (Mappe XIV), Nr. 1259 G. 2

    Physical Description

    • 1 DBl. (4 b. S. o. Adr.)

Text Constitution

  • “den 4ten April”added in the margin
  • “… die nun verödete Familie bildete”per Rasur geändert aus: war
  • “… verödete Familie bildete eigentlich unsern”n nachträglich ergänzt
  • “… Familie bildete eigentlich unsern einzigen”r überschrieben mit n

Commentary

  • “… Kriegszeiten wegen das Theater aufgeben”Schließung des ersten Dessauer Hoftheaters mit der Vorstellung am 1. April 1810; danach Vorstellungen einer Liebhabergesellschaft (bis 28. April 1813). Ab Herbst 1815 spielten reisende Gesellschaften in Dessau, bis im Herbst 1853 ein neues stehendes Hoftheater eingerichtet wurde.
  • “… April der Frau Geheimrath Öchelhäuser”Emma Oechelhäuser, geb. Reinbach (1823‒1876), Ehefrau von (Justus) Wilhelm Oechelhäuser (1820‒1902).
  • “… Für mich und meine Frau”Christine Emilie Thiele, geb. Schulze (geb. 1816), seit 31. August 1837 verheiratet mit Eduard Thiele.

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