Eduard Thiele to Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
Dessau, Sunday, January 23, 1876

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Hochwohlgeborner,
Hochzuverehrender Herr Professor!

Ew: Hochwohlgeboren werden lächeln, wenn ich es versuchen will mich zu entschuldigen, dass ich erst heute Ihr geehrtes Schreiben vom 22st November 75 beantworte und dennoch, Sie dürfen es mir glauben, haben mich triftige Gründe davon abgehalten. Mein Beruf hat mich in den letzten acht Wochen so gewaltig in Anspruch genommen, dass ich nicht zu Athem gekommen bin; außerdem war es eine lebensgefährliche Krankheit meiner verheiratheten Tochter, der Freundin Martha’s, die mich gewaltig ergriffen und niedergeschmettert hatte und — oberflächlich wollte ich Ihren Brief nicht beantworten! Nun, da ja Gott sei Dank meine Tochter genesen ist, ich die knüfflichsten Opern „Meistersinger“ und „Der Widespenstigen Zähmung“ von Götz sowie noch verschiedene andere, die alle entweder zum großen Theil oder ganz neu studirt werden mußten, hinter mir habe, will ich Ihre Fragen so ausführlich beantworten, wie ich es nur vermag — | und ich denke — nicht ohne Erfolg!

Ich freue mich herzlich Ihnen gefällig und Ihrer Arbeit vielleicht auch nützlich sein zu können. Zu meiner großen Freude habe ich beide Partituren in unserm Hauptcataloge resp: in unserer Bibliothek gefunden; auch enthalten sie die Nummern, obschon nicht ganz übereinstimmend mit Ihren Skizzen. Ich sende Ihnen beide Werke zu Ihrer Einsicht und bitte Sie nur, da ich für die Bibliothek verantwortlich bin, mir umgehend einen Empfangsschein zu senden, den ich bis zur Restituirung einstweilen in der Bibliothek deponiere. Der „Freybrief“ der in dem Cataloge als von „Haiden“ componirt steht, ist, wenn mich nicht Alles trügt, gerade das echte Manuscript von J: Miller; ich kenne nämlich dessen Handschrift genau*, weil ich als junger 19jähriger Mann während seiner hiesigen Direction vom 1st October 1832 bis Juli 1833 sein Musikdirector war und von hier aus mit ihm nach Altenburg und Lauchstädt ging. Aufgeführt ist von den Opern hier während seiner Direction keine, aber gewiß früher, was ich freilich nicht weiß; es sind auch die Bücher dazu vorhanden – ebenso auch Partitur und Buch einer dritten Oper: „Der Kosackenoffizier“ (Nro 30 des Cataloges, also wahrscheinlich etwas später wie der „Freibrief“ aufgeführt.)

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Miller’s Familie betreffend, kann ich Ihnen auch Notizen geben; Frau Miller war eine geborene Kirchheimer, & gehörte der früheren renomirten und reichen Banquiersfamilie Kirchheimer in Berlin an; sie lebte mit ihrer ältesten Tochter Auguste noch vor ungefähr 4 Jahren dort und letztere gab dramatischen Unterricht; es dürfte nicht schwer sein deren Adresse zu erfahren* – vielleicht bei den Agenten Röder oder Entsch*. Ein Bruder der Frau Miller war hier unter dem Namen Kirchner 1832–1833 Regisseur und sehr tüchtiger Charakterspieler, hatte damals eine gewisse Berühmtheit als Catalanie-Kirchn[e]r in der Posse „Die falsche Catalanie“; er privatisirt entweder in Potsdam oder in Charlottenburg – wenn er überhaupt noch lebt, denn als er mich vor ungefähr 4 Jahren besuchte, war er bereits einige achtzig Jahr alt, obschon außerordentlich rüstig und geistesfrisch.

Von diesen Familienangehörigen würden Sie unbedingt Näheres über J: Miller und besonders über meine Vermuthung in Betreff der Echtheit der Partitur „Der Freibrief“ erfahren können. – Miller lebte in den letzten Jahren in Leipzig und zwar getrennt von seiner Familie in sehr dürftigen Verhältnissen; ich sah und sprach | ihn dort häufig. Er mag dort ungefähr vor 12–15 Jahren gestorben sein.

Kann ich Ew: Hochwohlgeboren durch Mittheilung aus unserer Bibliothek, die reichhaltig und in bester Ordnung ist, bei Ihren wissenschaftlichen Forschungen nützlich sein, so wird es mir zur größten Freude gereichen.

Von Martha, die gleichsam zu unserer Familie gehörte und uns früher „ihre deutschen Ältern“ nannte, erfahren wir manchmal durch unsern Sohn in Glauchau etwas; auch schreibt sie ab und zu, hat uns auch im vergangenen Jahr besucht – das Alles werden Sie wissen.

Indem ich mich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin angelegentlich empfehle, habe ich die Ehre mit größter Hochachtung zu zeichnen Ew: Hochwohlgeboren ergebenster
Ed: Thiele

Editorial

Summary

schickt ihm zwei hs. Partituren aus der dortigen Opern-Bibliothek: Der Freybrief von Julius Miller in dessen Handschrift und Die Verwandlungen und teilt ihm Erinnerungen an J. Miller und dessen Familie mit

Incipit

Ew: Hochwohlgeboren werden lächeln, wenn ich es versuchen will

Responsibilities

Übertragung
Frank Ziegler

Tradition

  • Text Source: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Shelf mark: Weberiana Cl. IV B (Mappe XIV), Nr. 1259 G. 1

    Physical Description

    • 1 DBl. (4 b. S. o. Adr.)

    Commentary

    • “… kenne nämlich dessen Handschrift genau”Die heute verschollene Dessauer Freibrief-Partitur konnte von F. W. Jähns mittels Handschriften-Vergleichs als Autograph Fridolin von Webers (nicht von Julius Miller) bestätigt werden; vgl. WeGA, Bd. III/11b, S. 304.
    • “… sein deren Adresse zu erfahren”Im Berliner Adressbuch 1876 ist F. Miller, geb. Kirchheim, als „Rentiere“ unter der Adresse Ritterstraße 32 (Parterre) nachgewiesen.
    • “… den Agenten Röder oder Entsch”Berliner Theateragenturen F. Roeder (1876: Taubenstraße 27) und A. Entsch (1876: Mittelstraße 25).

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