Übersicht der musikalischen Produktionen in Mannheim. Winterhalbjahr 1811–1812 (Teil 2/4)
Uebersicht der musikalischen Productionen in Mannheim. Winterhalbjahr 1811 – 12.
(Fortsetzung aus der 21sten No.)
Dieser Aufführung folgte Himmels Vater-Unser*. Auch dieses war hier erst im Museum, noch nie öffentlich gehört worden, und gar wohl verdiente darum dieses Werk zur öffentlichen Aufführung gebracht zu werden. Himmel befolgt auch hier (wie in der eben besprochenen Trauer-Cantate) – die Methode, kurze, wenig ausgeführte Sätze, (Duette, Terzette, das erste Duett A dur*, besteht aus 16 – 18 Takten –) durch noch kürzere Zwischenspiele – hier durch Chöre, welche jedesmal eine der sieben Bitten einfach absingen – an einander zu reihen. Durch diese Methode ist er freilich sicher, den Zuhörer zu befriedigen, welcher liebt, eine Galerie angenehmer Empfindungen [vor] seinem innern Sinne vorbey defiliren zu sehen, ohne sich um tiefere, erschöpfendere Ergründung jeder einzelnen verweilend bemühen zu wollen – denn lieblich und einnehmend ist beynahe alles, was H. giebt: allein die Erfordernisse einer geistlichen Musik sind dadurch nicht erfüllt. Ref. will hiemit keineswegs dem steif-contrapunktischen, an hergebrachten Formen und ängstlichen Regeln klebenden, mit unzählichen technischen Verboten dieses oder jenes Intervalles, dieser oder jener Fortschreitung überladenen, sogenannten Kirchenstyl* das Wort reden; er erkennt weniger einen technischen Unterschied zwischen Kirchen- und profanem Styl, als nur einen ästhetischen: er versteht unter Kirchenstyl jenen veredelten, durch tiefes, warmes Gefühl erzeugten, welcher den einmal aufgefassten Gegenstand unverrückt im Auge behält, von allen Seiten beleuchtet und mit Wärme einprägt, – welcher, Zufälliges verschmähend, das Gemüth zur ungetheilten, tiefen Aufmerksamkeit auf die Hauptempfindung zwingt, und den Zuhörer nicht los lässt, bevor er ihn die ganze Würde seines Gegenstandes, die ganze Tiefe der Empfindung, hat fühlen lassen – bis er ihn ganz zu der Stufe von Verklärung erhoben hat, deren der Gegenstand würdig und das menschliche Gemüth fähig ist. Die Kunstmittel zur Erreichung dieses Zweckes sind: musikalische Durchführung, Ausführung eines einmal ergriffenen Hauptgedankens (Thema’s) unter mannigfaltigen, immer auf die Hauptidee zurückweisenden Beziehungen; rhetorische Ausführung und Begründung, welche das Wesen und innere Leben des Kirchenstyls ausmacht, dort überall hervorblicken soll, und in der Fuge (d. h. dem Tonstücke der vollendetsten und consequentesten Einheit) ihren höchsten Gipfel erreicht – eine Consequenz, zu welcher freylich die aphoristische Behandlung geradezu den Gegensatz bildet.
Wie gesagt also: lieblich ist manches, ja das meiste von dem Verschiedenen, was Himmel uns im Vater-Unser zu hören giebt, so z. B. das erste kurze Duettchen, A dur, und manche Stellen der Sopran-Arie*; noch glücklicher die Tenorstelle: der Friede schwingt die Palme – mit eingeflochtenem Chor, erst in C, dann in B; am gelungensten das Quartett, in As*, mit seinen enharmonischen Wendungen aus As moll nach H dur, u. von da durch E moll zurück in den Hauptton; glücklich überraschend die Harmonienwahl mancher kurzen Chorstellen, z. B.: Vater unser, der du bist im Himmel – und: Dein Wille geschehe. – Gar zu obsolet ist aber dagegen doch die Melodie des kleinen Terzetts dreyer Männer: (B 3/4) Kommt, Engel, von den heil’gen Höhn – und wenn nun vollends der Schlusssatz ganz mit der Miene einer Bassfuge* auftritt, förmlich mit Dux und Comes (wiewol letzterer, nicht an einem, nicht an zwey, sondern an drey Orten von jenem abweichend) – anhebt, allein gleich nach den hergebrachten vier ersten Ein-tritten – (d. h. nach der Exposition des Stücks) – alles Fugiren schon verschwindet, und der Satz in ein gewöhnliches Allegro freyer Bearbeitung ausläuft, von dem als Fugenthema so pomphaft angekündigten Satze aber kaum mehr leichte Andeutungen wiederkehren: so muss man wenigstens wünschen, der Componist hätte beym Eingange des Schlusssatzes weniger ausgeholt, und keine Erwartung erregt, welche er nicht zu erfüllen gedachte. – Der Eindruck des Ganzen auf den Zuhörer kann bey diesen Umständen wol angenehm, aber nicht tief rührend, gross und erhebend seyn; wiewohl Ref. nicht leugnen will, dass die Composition durch recht reichliche Besetzung der Doppel-Chöre (welche wegen Mangel an gehöriger Choristenzahl, hier so viel möglich in einen Chor zusammengeschmolzen werden mussten) noch vieles an Effect gewonnen haben würde. Der Mangel eines wohlgefütterten und gut eingeübten Chors ist nun einmal eine der sieben Hauptplagen, womit Mannheim von jeher heimgesucht ist; und auch die eifrigste Bemühung der Concertunternehmer vermag es nicht, die funfzigerley kleinen Convenienzen zu beseitigen, welche dem Zustandekommen allseitigen Kraftvereins sich in den Weg drängen.
Editorial
General Remark
Creation
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Tradition
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Text Source: Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 14, Nr. 22 (27. Mai 1812), col. 364–367
Commentary
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“Himmels Vater-Unser”Friedrich Heinrich Himmels Vaterunser wurde im zweiten Konzert am 13. Dezember 1811 gegeben, das Aufführungsdatum im Museum war nicht zu ermitteln; zum Museum vgl. Kom. 1810-V-06.
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“das erste Duett A dur”Duett Sopran und Tenor „Und liebevoll dein Auge schaut“.
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“Kirchenstyl”Vgl. Kom. 1811-V-92 (Teil 2).
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“Sopran-Arie”„Laß Ähren reifen im Sonnenstrahl“.
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“Quartett, in As”„Der du von reinen Geistern umgeben“.
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“Schlusssatz ganz mit … Miene einer Bassfuge”„Dein ist das Reich“.