Spektakuläre Neuerwerbungen in Berlin
Die Weber-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, deren Grundstein Caroline von Weber 1851 mit der Schenkung des Freischütz-Autographs legte, ist die bedeutendste Kollektion von Originalquellen des Komponisten weltweit, vor allem dank zweier großer Erwerbungen im 19. bzw. 20. Jahrhundert: der Sammlung Weberiana von Friedrich Wilhelm Jähns (seit 1881 in der Bibliothek) und des Weber-Familien-Nachlasses (zunächst seit 1956 als Leihgabe im Haus, 1986 durch Hans-Jürgen von Weber in eine Schenkung umgewandelt). Besagter Familien-Nachlass ging aus dem Werk- und Schriftenarchiv des Komponisten hervor, das nach dessen Tod von der Familie von Weber – von etlichen „Abgängen“ abgesehen – in großer Geschlossenheit bewahrt und gepflegt worden war.
Bei der Schenkung dieses Archivs 1986 waren ausgewählte Einzelstücke im Familienbesitz verblieben. Das von Hans-Jürgen Freiherr von Weber der Bibliothek großzügig eingeräumte Vorkaufsrecht konnte diese nach seinem Tod im Jahr 2002 trotz großer Bemühungen leider nicht wahrnehmen, aber immerhin gelang es nachträglich, zwei Einzelstücke aus dem Bestand wieder in den ursprünglichen Sammlungskontext zu integrieren: 2007 das Autograph der Missa sancta Nr. 2 und 2012 jenes des Klavierkonzerts Nr. 2. 2023 entschloss sich dann der derzeitige Familienvorstand Christian Freiherr von Weber, drei weitere Autographen als Leihgabe in die Bibliothek zu geben, von vornherein verbunden mit einer Ankaufsoption, je nach den finanziellen Möglichkeiten der Institution. Dass die Leiterin der Musikabteilung, Dr. Martina Rebmann, die sich in Abstimmung mit den Mitarbeitern der Weber-Gesamtausgabe seit Jahren beharrlich und erfolgreich für die Vermehrung der Sammlung engagiert, dann allerdings gleich alle drei Autographen im selben Jahr (2024) erwerben konnte, gehört zu den ganz seltenen – und so von Niemandem erwarteten – Glücksfällen. Der Begriff „spektakulär“ ist dabei angebracht, handelt es sich doch um den bedeutendsten Bestandszuwachs für diesen Sammelschwerpunkt des Hauses seit 1986!
Als erster „Neuling“ wurde im Juli 2024 das Autograph der 2. Sinfonie erworben (Signatur: 55 MS 223). Carl Maria von Weber ist nicht unbedingt als Sinfoniker bekannt; neben seinen epochemachenden Bühnenwerken, seinen von den Zeitgenossen hoch geschätzten Liedern und Gesängen, virtuosen Klavier-Vortragsstücken wie der Aufforderung zum Tanze und den Konzerten und Kammermusiken voller Klangsinn stehen die beiden C-Dur-Sinfonien weitgehend im Schatten. Weber wollte sich bei der Komposition nicht mit dem sinfonischen „Titanen“ seiner Zeit, Ludwig van Beethoven, messen, sondern bezog sich ausdrücklich auf das Vorbild Joseph Haydns. Während sich Beethoven quasi lebenslang mit der Gattung Sinfonie auseinandersetzte, blieb Webers Beschäftigung mit diesem „Prüfstein“ der Orchestermusik auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt und war von ganz speziellen Aufführungsbedingungen geprägt. Beide Sinfonien entstanden in enger zeitlicher Abfolge (die Nr. 2 im Januar 1807) im oberschlesischen Carlsruhe quasi als „Gastgeschenke“: Eine Einladung des Herzogs Eugen von Württemberg auf dessen Besitzungen hatte dem jungen Musiker für mehrere Monate ein von finanziellen Zwängen befreites, unbeschwertes Leben erlaubt. Er wohnte gratis im Umfeld des Schlosses, wo er gern gesehener Gast war, für die musikalische Unterhaltung sorgte und dem Sohn des Herzogs (Eugen II.) Musikunterricht erteilte. Ehrenhalber wurde er sogar zum herzoglichen „Musik-Intendanten“ ernannt. Der napoleonische Überfall auf Preußen und die nachfolgende französische Besetzung Schlesiens beendeten dieses Intermezzo nach wenigen Monaten. Als Dank für die erwiesene Gastfreundschaft entstanden mehrere musikalische Werke, darunter die am Haydn’schen Vorbild orientierten Sinfonien, galt Herzog Eugen doch als ausgesprochener Bewunderer von dessen Werken. Die instrumentale Besetzung trägt den Rahmenbedingungen der kleinen Hofhaltung Rechnung, wo nur wenige Berufsmusiker den Kern eines kleinen, offenbar aber recht leistungsfähigen Orchesters bildeten.
Wesentlich ambitionierter war jenes Werk, dessen Originalhandschrift als nächste – ab September/Oktober 2024 – die Berliner Sammlung ergänzte: die Oper Silvana (Signatur: 55 MS 226). Ab 1808 nach dem Vorbild eines älteren Bühnenwerks (Das Waldmädchen) für eine erhoffte Einstudierung in Stuttgart komponiert, wurde das Werk am 23. Februar 1810 vollendet – im Arrest. Der gegen Weber angestrengte ProzessT, der schließlich zu seiner Ausweisung aus Württemberg führte, verhinderte die vorgesehene Stuttgarter Premiere, so dass die Oper am 16. September 1810 in Frankfurt am Main ihre Uraufführung erlebte; mit Caroline Brandt, Webers späterer Gattin, in der Titelpartie. Ihre stumme Hauptrolle – eine für eine Oper ungewöhnliche Besetzung – scheint Weber gereizt zu haben, verlangte sie doch eine besonders sprechende, geradezu gestische Musik. So wird beispielsweise aus der Szene des Rudolph Nr. 7 quasi ein Duett, in dem das Solocello den Part der Stummen übernimmt und sie zum Sprechen bringt. Wie stark diese romantische Idee des sprechenden Orchesters Webers musikalisches Denken bestimmte, bezeugt der Umstand, dass die Darstellerin in dieser Nummer ein eigenes Notensystem erhält, in dem ihre gestisch-mimischen bzw. tänzerischen Aktionen synchron zum musikalischen Verlauf notiert sind – eine musikalisch neuartige Verbindung aus gesungener Solonummer und Melodram bzw. Tanz. Mit der Frankfurter Produktion war die Werkgeschichte allerdings noch keineswegs abgeschlossen: Mit der Form zweier großer Arien unzufrieden, schuf Weber für die Berliner Einstudierung 1812 zwei Ersatznummern (je eine für den ersten Tenor – Rudolph – und den ersten Sopran – Mechtilde), und für eine geplante (allerdings nicht zustande gekommene) Dresdner Neueinstudierung nahm er 1818 nochmals Umarbeitungen an den Finali des II. und III. Aktes vor, die sein gereiftes Empfinden für musikalische Dramatik unter Beweis stellen. Leider ist das Autograph der Silvana seit Mitte des 19. Jahrhunderts unvollständig: der II. Akt der Originalpartitur ging verloren. Ihren Weg nach Berlin fanden jetzt der I. und III. Akt sowie die beiden für Berlin nachkomponierten Arien, dort treffen sie auf die Partiturabschrift für die Berliner Produktion von 1812 (in der auch der Akt II enthalten ist).
Als dritter und (bislang) letzter, sicherlich bedeutendster Zuwachs fand schließlich im November 2024 das Autograph der unmittelbar nach Abschluss der Silvana in Angriff genommenen nächsten Oper Webers in die Musikabteilung der Staatsbibliothek: jenes vom Abu Hassan (Signatur: 55 MS 227), genauer gesagt das 2. Autograph zu diesem Werk. Der am 12. Januar 1811 in Darmstadt vollendete, amüsante Einakter um einen (wie Weber seinerzeit) finanziell schwer angeschlagenen Lebemann und Höfling am Hof des Kalifen von Bagdad beruht auf den noch heute beliebten Geschichten aus Tausend und einer Nacht. Der Komponist überreichte sein Werk dem hessischen Großherzog Ludewig I. und erwartete sich davon – wie die Titelfigur der Oper – eine großzügige herrschaftliche Zuwendung; in seinen eigenen Worten (im Brief an den befreundeten Gottfried Weber vom 8. Januar): „vielleicht speyt er da etwas ordentliches“. Mit seinem Widmungsschreiben vom 14. Januar 1811, das den Großherzog als „großen Kenner und Beschützer der schönen Künste“ preist, übereignete Weber dem Landesherren erstaunlicherweise nicht die neu erstellte autographe Reinschrift, sondern sein Kompositionsautograph (heute in der Hessischen Universitäts- und Landesbibliothek in Darmstadt) und wurde im übrigen nicht enttäuscht: Am 2. Februar erhielt er 440 Gulden. Während das ältere Darmstädter Autograph den Werkbestand von 1811 (mit Ouvertüre und 8 Nummern) dokumentiert, wie er auch der Münchner Uraufführung am 4. Juni 1811 zugrunde lag, so dokumentiert das jüngere, nunmehrige Berliner Autograph (mit Ouvertüre und 10 Nummern) die weitere Werkgenese: 1812 entstand für eine Liebhaberaufführung auf dem Gothaer Steinmühlentheater ein zusätzliches Duett (Nr. 4 für das Paar Fatime und Hassan) und 1823 für die Dresdner Neueinstudierung eine kurze, aber äußerst wirkungsvolle Arie der Fatime (Nr. 8) – ein Kabinettstück der musikalischen Komik. Weber spielt darin mit musikalischen Topoi der Trauer-Arie und überzeichnet sie derart, dass die Verzweiflung über den vermeintlichen Tod des (sich in Wahrheit nur tot stellenden) Hassan als dreister Mummenschanz entlarvt wird. Während die Überarbeitungsstufen der Silvana den Komponisten sozusagen noch auf der Suche nach der endgültigen musikalischen Form zeigen, blieben die ursprünglichen Nummern des Abu Hassan von 1811 unangetastet und wurden vom Komponisten lediglich durch zwei zusätzliche effektvolle Einlagen ergänzt, wobei die Arie von 1823 in ihrer Reduktion der Instrumentation den gereiften Klangsinn des „späten“ Weber verdeutlicht.
Die drei Weber-Autographen sind mit ihrer Reise nach Berlin quasi „heimgekehrt“ in Webers Werkarchiv, wo sie nun der Forschung leichter als zuvor zur Verfügung stehen. Wir danken Christian von Weber für sein großes Vertrauen und seine Bereitschaft, die wertvollen Handschriften seines Urururgroßvaters in die Obhut der Berliner Bibliothek zu geben, und Dr. Martina Rebmann für ihre konsequenten Bemühungen, die zunächst zum Abschluss des Depositalvertrags und schließlich zu den drei Ankäufen führten. Auch wenn der Abu Hassan in Bagdad spielt, so untermauert Berlin doch seine Bedeutung als das Mekka für die Weber-Forschung!