Rezension: „Polacca brillante“ op. 72 von Carl Maria von Weber
Polacca brillante per il Pianoforte composta da Carlo Maria di Weber. Op. 72. Berlino, preßo Schlesinger. Pr. 16 Gr.
Die Klavierkompositionen des bekannten und gefeierten Tonsetzers nehmen unter neuern Leistungen für dieses Instrument mit Recht einen bedeutenden Rang ein, namentlich dessen drei Sonaten.*) Eine angenehme Frische, ein kühner Aufschwung in den Passagen, stets unterhaltende Wendungen machen die Produkte dieses Komponisten überaus angenehm, obschon sie nicht recht auf die Dauer beschäftigen. Der Grund davon ist in der Individualität des Herrn von Weber zu finden, der unstreitig im Liede und überhaupt in der Gesangskomposition bei weitem glücklicher, ja unter den neuern Komponisten im Liede unerreichbar genannt werden kann. Dieses Hinneigen zu dem Melodiösen ist es denn auch, was seine Klavierstücke, so lange sie dem Exekutirenden etwas neues sind, überaus beliebt und angenehm macht; was aber auch bei öfterem Durchspielen eine Art von Ueberdruss herbeiführt, indem die linke Hand gewöhnlich mit Akkorden, die in der Regel lieblichen Melodien und Passagen etwas zu einförmig fortträgt.
Vorliegende Polonoise gehörte von jeher zu den kleinen und gehätschelten Lieblingen des Recensenten, obschon er eben kein enthusiastischer Verehrer der Polonoisen ist. Keck und froh tritt das Thema, ohne weitere Umstände – denn gewöhnlich pflegen die sogenannten Introduktionen (Phantasien!!!) weiter nichts zu sein, als eine Ceremonie vor dem Auftreten des Hauptstückes – ins Leben.

Dieses Thema ist überaus frisch, ja es ist sogar mehr darin, als gewöhnlicher
Lebensmuth. Dem Rec. kommt es vor, wie das erste freudige Beben wiederkehrender
Gesundheit und Kraft nach einer Krankheit, was sich gleich beim ersten Akkorde
also kund that. Das tranquillo: ist des Lebens heitres Spiel, was die Brust mit leichtem Schmerz
umfächelt, attisches Salz, welches den Ernst des Daseins tragen hilft. Die
dritte Seite schmückt eine sanfte, fromme, gleichsam zurückblickende Kantilene
die von dem rythmisch angenehm bewegten, aber doch ruhenden
Tenore fortgetragen wird. Ein crescendo (wachsender Lebensmuth, aufkeimende
Thatkraft) stellt das Thema höchst effektvoll wieder ans Licht. Der Seitensatz,
in der parallelen Tonart Cis-moll und den ihr verwandten Tonarten Gis-moll und
Fis-moll, besteht aus einer bequem liegenden, brillanten und schönen Passage,
die überaus wohlthuend an die freie Manier des unsterblichen u. genialen
Prinzen | Louis Ferdinand erinnert,
der unstreitig dem v. Weber in
Klavierkompositionen Vorbild ist. Diese Passage rollt angenehm und genial
aufgeregt unablässig bis zum herrlichen Thema hin. Auf den beiden letzten Seiten
verschmelzen sich beide, das Thema und der Seitensatz, in gesteigertem Affect
begeistert mit und in einander, und das Treiben wird mit einer in beiden Händen
aufwärts rollenden Scala geendigt. Alle Klavierspieler werden nach Durchspielung
dieses schätzenswerthen Tonstücks mit
Schiller sagen können: „Dem Kranken der Genesung
Wonne!“*
A... H... J.
[Originale Fußnoten]
- *) Dermalen vier; eine Beurtheilung derselben steht zu erwarten.
Apparat
Zusammenfassung
Rezension: „Polacca brillante“ (WeV S.8) von Carl Maria von Weber
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Bandur, Markus
Überlieferung
-
Textzeuge: Berliner allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 1, Nr. 34 (25. August 1824), S. 290–291
Einzelstellenerläuterung
-
„… Dem Kranken der Genesung Wonne!“Das Zitat stammt aus der siebten Strophe von Heinrich Zschokkes Gedicht „Im Kreise freier, kluger Zecher“ aus dem Jahr 1810, das von Karl Döberlin vertont wurde.