Aufführungsbesprechung Wien, Kärntnertortheater: „Euryanthe“ von Carl Maria von Weber am 14. November 1823
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[Am 14ten] Im Kärnthnerthor-Theater, mit Abkürzungen: Euryanthe. Der Meister hat uns wieder verlassen, und nun hat man’s auch gewagt, in seinen Eingeweiden zu wüthen; für die scenische Darstellung mag diess wohl erspriesslich seyn, aber das Werk hat dabey manche edle Theile eingebüsst, und ist gewissermaassen verstümmelt worden. Ref. will jetzt, ohne Berücksichtigung dieser Beschneidung, sein Wort lösen und, nach fünfmaligem Anhören, den vollständigen Klavierauszug vor sich, über den musikalischen Theil dieser Oper umständlichen Bericht erstatten. – Die Ouverture ist in der That ein überreich vergoldeter Rahmen, welcher das meisterhafte Tongemälde einschliesst. Sie beginnt ganz ohne Vorbereitung, rasch und feurig, mit einem scharf markirten Allegro in Es dur, dessen Grundthema in N. 4 wiederkehrt, und in gewaltigen Instrumentenmassen, nur unterbrochen von der Cantilene des Mittelsatzes in der Dominante, unaufhaltsam fortstürmt, bis es, allmählig in Trugschlüssen über den kleinen Septimen-Accord von Ges verhallend, sich in ein kurzes, nur vom Bogen-Quartett mit Sordinen ausgeführtes Largo auflösst, welches, zwar ohne Vorzeichnung, jedoch mittelst einer enharmonischen Verwechselung in H dur gesetzt ist, und Anklänge aus Euryanthens Erzählung von dem verhängnissvollen Schicksalsring enthält. Nach seltsamen Modulationen, und einem Ruhepunkt in der Fis dur Harmonie, geben beym Eintritt des tempo primo die Contrabässe pianissimo ein Fugenthema von vier Takten in H moll an, welches zuvörderst in der Octave beantwortet, und bey anschwellender Stärke in mehreren Nebentonarten, als: A moll, G moll, C moll (vierstimmig) fortgesponnen wird, worauf, höchst überraschend, über den Quart-Sext-Accord von C dur das Hauptthema erschallt, und unmittelbar darnach in der dominirenden Tonart wiederkehrt. Die Mittelperiode erscheint hier in voller Stärke, und das zweytemal noch mit einem neuen Reiz der wogenden Bässe ausgestattet; in seiner imponirenden Grösse schliesst auch das ganze Tonstück, ohne durch ermüdend verzögernde Schlusscadenzen den Totaleindruck zu schwächen; so öffnet sich der Vorhang, und wir erblicken im Prunksaale König Ludwig von Frankreich, den ganzen versammelten Hof; die Frauen singen (Introduzione, No. 1, G dur, moderato maestoso) in süssen Weisen; „dem Frieden Heil! nach Sturmestagen!“ und galant erwiedern die Ritter: „den ¦ Frauen Heil, den zarten Schönen;“ zwey Sätze, die, sowohl getrennt als vereinigt, viel Anmuth haben. Der sich anschliessende ernste Tanz-Reigen (gleichfalls G dur, Maestoso 3/4 Takt) gewinnt durch die stolzen Bässe, durch die Eigenthümlichkeit des Rhythmus und Tonwechsels eine ächt nationelle Farbe. No. 2. Adolar’s Romanze (B dur, Andante, 3/4 Takt) „Unter blühenden Mandelbäumen“ ein wahrhafter Troubadour-Gesang, durch die stets veränderte Begleitung der drey Strophen noch mehr gehoben, und übergehend in einen kurzen Chor No. 3. (G dur, Allegro 4/4 Takt) womit gewissermaassen die ganze Introduction endet. No. 4. Terzett mit Chören: „Wohlan! du kennst mein herrlich Eigenthum!“ (Es dur, Maestoso assai 4/4 Takt) ein grossartiges Tonstück, in welchem der Knoten der Handlung geschürzt wird; mit besonnener Wahl ist die imponirende Stretta (Ich bau auf Gott, und meine Euryanth!) das Thema der Ouverture; No. 5. Euryanthens Cavatine: „Glöcklein im Thale“ (Andantino, C dur, 2/4 Takt), in idyllischer Einfalt gehalten; No. 6. Eglantinens Arie: „O mein Leid ist unermessen!“ (Agitato, E moll, 4/4 Takt) und No. 7. Duett mit Euryanthe: „Unter ist mein Stern gegangen“ (Moderato, A moll), zwey gefühlvolle, leidenschaftliche Sätze; im letzteren ist der Eintritt des maggiore ungemein beruhigend, und der‡ Verschlingung beyder Stimmen im Allegretto 3/4 Takt reine Harmonie; No. 8. Eglantinens grosse Scene: „Er konnte mich um Sie verschmähn!“ (Allegro fiero, E dur 4/4 Takt) Kampf von Liebe, Eifersucht, Wuth und Rache; No. 9. Finale (D dur). Der heitere Gesang des Landvolks: „Jubeltöne, Heldensöhne!“ bildet einen angenehmen Gegensatz zum gewichtigen Ritterchor: „Muth erfrischt das Herz des Kriegers;“ nicht minder die süsse Periode: „Fröhliche Klänge, Tänze, Gesänge,“ mit dem melodieenreichen a quatro: „Sehnen, Verlangen, Schmachten und Bangen;“ der Glanzpunkt aber ist die Chiusa: „Sehnend Verlangen durchwogt die Brust,“ worin die zart figurirte Solo-Stimme Euryanthens, gleichsam getragen von den leise murmelnden Chören, wie eine rieselnde Silberquelle dahin perlt. – Den zweyten Act eröffnet in einer rabenschwarzen Gewitternacht der unheilbrütende Lysiart mit einem furchtbaren Recitativ: „Wo berg ich mich? wo fänd’ ich Fassung wieder?“ (No. 10. Allo. con f[u]oco, C moll 4/4 Takt). Vortrefflich ist der Zwischensatz, wo seine bessere Natur die Oberhand zu | gewinnen scheint; ein Arioso cantabile in G dur 3/4 Takt: „Schweigt glüh’nden Sehnens wilde Triebe, ihr Auge sucht den Himmel nur!“ Doch allmählich stürmt es wieder auf in ihm: „So weih’ ich mich den Rachgewalten“ und in die wüthende Arie: „Zertrümmre, schönes Bild! – Nur sein Verderben füllt die Brust!“ hat der Componist eine Kraftanstrengung gelegt, die manchem Sänger übergenug zu schaffen machen dürfte. – Eglantine tritt aus der Gruft; Lysiart lauscht ihr das Geheimniss des Ringes ab, und nun, im Duetto No. 11. (Allegro energico, H dur 4/4 Takt) verbünden sich beyde zum Verderben Euryanthens und Adolars („Komm denn unser Leid zu rächen!“) und schwelgen im Vorgefühl ihrer satanischen Siegeslust. Den Instrumental-Effekt dieses höchst dramatischen Tonstückes in Worten versinnlichen zu wollen, wäre ein nicht zu lösendes Problem: es will gehört werden, um in seiner höhnenden Wildheit Schauder zu erregen; No. 12. Arie von Adolar: „Wehen mir Lüfte Ruh!“ (Larghetto, As, 3/4 Takt) Süsse Liebes-Schwärmerey; das Allegro, innig und zart; No. 13. Duett mit Euryanthe: „Hin nimm die Seele mein!“ (Vivace, C dur 4/4 Takt.) Der allmählig vorbereitete Uebergang in diese ungetrübte Tonart, der Ausbruch des höchsten Entzückens, endlich der in Minnelust hinsterbende Schluss: „Lass mich an deiner Brust vergehn!“ alles gleich meisterhaft. No. 14. Finale. Der erste Chor: „Leuchtend füllt die Königshallen!“ (Allegro moderato, F dur, 9/8 Takt) klingt durch die ungewöhnlichen Einschnitte von 7 Takten gewaltig fremdartig; das nächst folgende tempo (più mosso, Des dur 4/4 Takt) mit Lysiarts Anklage beginnend, hat ausgezeichnete Stellen, und die wiederkehrende Melodie aus der Ouverture, so wie aus No. 4, zu Adolars Worten: „Komm an mein Herz“ ist ein unwiderlegbarer Beweis, wie der denkende Tonmahler nur immer sein Ganzes vor Augen gehabt hat. In dem Quartette: „Lass mich empor zum Lichte wallen“ (Larghetto, A dur, 3/4 Takt) ist die künstliche Verwebung der Stimmen merkwürdig, deren jede ihren eigenen Gang geht, und die sich doch so wundersam vereinen; aber dieser Satz will auch mit der reinsten Delicatesse ausgeführt werden. Die Chorstelle: „Wir alle wollen mit dir gehn“ (C dur), besonders wenn Euryanthens Stimme als canto fermo darüber figurirt, ist so einfach, und doch so überaus herzlich; aber der Schlussstein dieses Aktes, der letzte Chor: „Du gleissend Bild, du bist ent¦hüllt“ (F moll) ist, bey gehöriger Besetzung und energischem Vortrag, von hinreissender Kraft und erschütternder Wirkung. – Dritter Akt. No. 15. Einleitendes Recitativ, dann Duett von Euryanthen und Adolar: „Wie liebt ich dich! Du warst mein höchstes Gut!“ (Moderato, A dur 4/4 Takt; dann: agitato, A moll) „Du klagst mich an, o herbe Pein!“ No. 16. Euryanthens Arie: „Schirmende Engelschaar“ (H dur); ihre Cavatine, No. 17. „Hier am Quell, wo Weiden stehn“ (Largo G dur): alle diese Sätze zusammen bilden einen Cyclus wechselnder Leidenschaften; im letzteren waltet ein kindlich frommes Gemüth. No. 18. Jägerchor: „Die Thale dampfen, die Höhen glühn!“ (Allegro marcato, Es dur 3/4 Takt) ein ebenbürtiger Nebenbuhler des Freyschützen, welcher bald zu gleicher Celebrität gelangen wird. Die dröhnenden acht Waldhörner sprechen ächte Weidmannslust aus. No. 19. Duett mit Chor: „Lasst mich hier in Ruh erblassen“ (Larghetto, C moll 6/8 Takt), eigentlich nur der Prolog von Euryanthens Arie: „Zu ihm, zu ihm, o weilet nicht!“ (Allegro con fuoco, C dur 4/4 Takt). No. 20, worin ihr Gefühl in hoch aufjauchzenden Jubel ausströmt; No. 21. Chor der Landleute: „Der May bringt frische Rosen dar.“ (Allegretto, A dur, 6/8 Takt) In diesem Satze waltet eine allerliebste Naivität; die äusserst einfache Cantilene wird anfangs bloss von Sopranstimmen im Einklange vorgetragen, und der Beytritt der Uebrigen ist wirklich originell. No. 22. Kurzer, kräftiger Chor: „Vernichte kühn das Werk der Tücke!“ (Allegro, B dur, 3/4 Takt); No. 23. Hochzeitsmarsch (D dur alla breve); sehr charakteristisch und nationell durch das frappante Alterniren der Major- und Minor-Scalen. No. 24. Duo zwischen Adolar und Lysiart, mit Chören: „Trotze nicht, Vermessener!“ (D dur, 4/4 Takt.) Eines der grössten Effektstücke, die vielleicht je geschrieben worden sind: hier ist Wahrheit, und imponirende Grösse. No. 25. Finale: „Lasst ruhn das Schwerdt![“] (Maestoso, Es, 4/4 Takt.) Die hervortretendsten Momente in demselben sind: a) Eglantinens frevelnde Jubelscene: „Triumph! gerochen ist meine Schmach“ (con furia, E dur); b) eine fragmentarische Reprise des Duetts aus dem zweyten Akt, bey der Wiedervereinigung des liebenden Paars: „Hin nimm die Seele mein!“ (C dur), worin jetzt auch der Chor verwebt ist; c) die kleine Periode Adolars, als er in prophetischer Begeisterung ausruft: „Ich ahne Emma! selig ist sie jetzt!“ analog | dem Mittelsatze der Ouverture, aber nun in reiner, ungetrübter Harmonie; endlich: d) der feurig rasche Schlussgesang: „Nun feyert hoch in vollen Jubeltönen“ (Presto, Es dur, 2/4 Takt) und somit: Finis coronat opus.
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Apparat
Entstehung
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Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Bandur, Markus
Überlieferung
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Textzeuge: Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 25, Nr. 52 (24. Dezember 1823), Sp. 861–865