Aufführungsbesprechung Berlin, Schauspielhaus: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 22. Oktober 1822
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Im „Freischütz“ trat Madam Seidler als liebe und unvergessene Freundin am 22sten Oktober wieder auf*, und empfing alle die Huldigungen, die, ohne Neid zu erregen, doch dem Herzen so wohlthuend sind. Madame Seidler verbindet mit sanfter Zartheit jenen Liebreitz der Stimme, der unmittelbar zum Herzen spricht, und ist dabei in einer Schule gebildet, welche die geistigen Söhne Haydns in Deutschland so beliebt und bis auf den heutigen Tag unvergeßlich gemacht hat.
„Und ob die Wolke sie verhülle“
„Die Sonne bleibt am Himmelszelt!“
Diese schönen Worte, welche der geistreiche Weber mit eben so rührenden Tönen begleitet hat, sang Madam Seidler mit einer Wahrheit des Ausdrucks, die nichts zu wünschen übrig ließ. Möchten sie eine erfreuliche Weissagung auf die Kunst selbst enthalten!
Ein nicht bloß volles, sondern ein stets überfülltes Haus scheint dem talentvollen Schöpfer dieser Musik einen unverwelklichen Lorbeer zu versprechen, und welcher Mann von Geschmack darf leugnen, daß sie, mit einem großen Reichthum von Schönheiten ausgestattet, unseren Bühnen ein willkommenes Geschenk geworden ist? Allein so gewiß – um uns der neulich angeführten Worte Glucks zu bedienen – die Gemälde der Liebe, der Freude und der sanften Schwermuth durch die lebendigen Farben der Töne in ihren Umrissen unverändert erhalten und durch jene unter des jungen Meisters Hand wirklich verschönert werden, so dürften doch strengere Kritiker schwerlich das nämliche auch von den grausenvollen Gebilden der Angst, der Furcht und der schrecklichen Verzweiflung zugeben. – Bei „Caspars“ Liebe, „Hier im ird’schen Jammerthal“ welches Herr Blume (der als „Caspar“ nach seiner Reise* zum ersten Mal wieder auftrat) mit großer Lebendigkeit vortrug, bei der Ariette „Kommt ein schlanker Bursch’ gegangen“ die Dem. Eunike mit eben so vieler Naivität als inniger Empfindung sang; bei der Arie „All meine Pulse | schlagen“ in welcher sich Mad. Seidler als wahre Meisterin zeigte und die sie mit hinreißender Begeisterung zum Besten gab; bei dem überall wiederklingenden Volksliede und dem so einfach-schönen Jäger-Chor wird jeder gern in das „Vox populi vox dei“ einstimmen. Daß aber eben so viel Wahrheit des Ausdrucks in der Begleitung der grausenvollen und schauderhaften Scenen des zweiten Akts – der wohl überhaupt nur dem herrschenden Geschmack am Gräßlichen sein Daseyn verdankt – zu finden wäre, darüber dürften sich im Laufe der Zeit wohl schwerlich die Stimmen vereinigen. Die Eindrücke, die hier mit unleugbarer Allgewalt auf die Menge gemacht werden, sind gewiß großentheils mehr auf Rechnung des Auges als des Ohrs zu setzen. Referent muß wenigstens bekennen, daß, indem er als der abgesagteste Feind von dergleichen gräßlichen Augenbelustigungn, nur stets auf seinen Text sah, er von der begleitenden Musik an sich wenig oder keine Rührung und eine wirklich erschütternde durchaus gar nicht wahrgenommen hat. Wenn Gluck einen „Thoas“ und sein Volk die kannibalische Freude über Menschenopfer ausdrücken läßt, wie viel anders wird dann ein gebildetes Herz vom bangen Entsetzen ergriffen! Soll neben dem Sanften, Zärtlichen und Gefühlvollen auch das Schauder-Erregende Hrn. v. Weber gelingen, so dürften ihm Kunstphilosophen wohl noch ein abermaliges Studium bei dem Schöpfer der Iphigenia anrathen. Er ist gewiß im Ganzen auf einem sehr guten Wege, wie er auch z. B. dadurch bewies, daß er der Begleitung zu den Worten des zweiten Akts „Zu dir wende ich die Hände“ choralmäßige Einfachheit gegeben hat; nur schade, daß selbst die besten Sänger und Sängerinnen bei solchen Stellen hinzuthun, was nicht hingehört!
Am 27sten Oktober war Mad. Seidler die „schöne Müllerin“ und sang als solche mit einem Wohllaut und einer Leichtigkeit, die Gaben von oben herab sind. Besonders gelangen die bekannten Variationen so, daß es Einem fast vorkam, als verspotte die Sängerin alle Schwierigkeiten. Erhalte ihr der Himmel diese Stimme noch recht lange ohne Variationen. – Von den übrigen Beschäftigten nennen wir besonders Hrn. Wauer, dem auch etwas sehr Gutes angeboren ist: nämlich eine große Deutlichkeit im Aussprechen des Textes, selbst bei dem lebhaftesten Tempo. Hr. Blume griff gut ein; Hr. Bader aber schien uns als Darsteller diesmal nicht ganz geeignet. Daß man einigen Spuk in der Handlung und der Musik wegließ, war nicht übel.–
Apparat
Zusammenfassung
Aufführungsbesprechung Berlin: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 22. Oktober 1822.
Entstehung
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Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Überlieferung
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Textzeuge: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Heft 131 (31. Oktober 1822), S. 7–8
Einzelstellenerläuterung
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„… als Caspar nach seiner Reise“H. Blume stand nach Gastauftitten in Königsberg ab dem 22. September wieder in Berlin auf der Bühne.