Rezension von Adolf Henselts neuer Bearbeitung von Weber'scher Klavierkompositionen, 1874

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Kritik.

Adolf Henselt und seine neue Bearbeitung Weber’scher Klavierkompositionen.

Vor etwa zwanzig Jahren fügte sich’s, daß ich in Schlesien den mir persönlich fremden Adolph Henselt besuchte. Meine werthen Kollegen und andere Leser dieser Zeitung (welche ja ihr spezielles Interesse für das Pianistenthum so deutlich accentuirt, daß ich diese kleine Mittheilung wohl einzusenden wagen darf), werden nun die Vorstellung haben, wie ein Klavierlehrer zu einem berühmten Virtuosen zu gehen pflegt, wie er an dem Zuge eines mit anständiger Physiognomie begabten Hauses des Berühmten klingelt, oder wie er sich in das Hotel desselben verfügt; wie dann der Heimgesuchte den Gemeldeten annimmt und dem Heimsuchenden sogleich der offene Flügel ins Auge fällt u. s. w. – So war es aber nicht, als ich Henselt besuchte. Hier öffnete sich der „Equipage des Herrn“, welche uns (nämlich außer mir auch Hrn. Jean Vogt*, einem andern Musiker) entgegengeschickt war, das Thor eines Landgutes, der weite Park mit Fontaine und Schloß lag vor uns, und das Erste, was wir von „Flügeln“ sahen, saß an allerlei gefiedertem Volke; das Erste was wir hörten, waren nicht Klaviertöne, sondern Pfauenrufe und Rossegewieher; was wir dann sonst Lebendiges sahen, das war allerdings Adolph Henselt, der uns vor seinem Schlosse mit freundlicher Würde empfing und uns einige Tage als glückliche Gäste bei sich behielt. Das war zu Gersdorf auf dem Mustergute des Hünen unter den Pianisten.

Diese Erinnerung kam mir bei dem Anblicke etlicher kürzlich erschienener Notenhefte mit dem Titel:

C. M. v. Weber’s ausgewählte Werke für das Pianoforte mit Varianten, erläuterndem Vortragszeichen und Fingersatz, bearbeitet und herausgegeben von Adolph Henselt (Berlin, Schlesinger).

Daß ich das Bild der Erinnerung hier mit voller Staffage ausmalte, geschah lediglich zur Aufmunterung meiner Herren Kollegen: sie sehen darin, wie weit es ein „Pianist“ bringen kann. – Natürlich spielte uns Adolf Henselt vor und zwar so, wie Keiner außer ihm spielt, was die Spielart betrifft. Jeder Takt war ein Stück solider Architektur, jeder Anschlag formte einen wohlgemeißelten Baustein, die Claves beugten sich in tiefer Demuth unter dem wuchtig elastischem Drucke von Fingern, wie sie eben nur an solchen fast überlebensgroßen und doch (der Gestalt dieses russischen „Großen“ angemessenen) wohlproportionirten Händen erwachsen konnten.

Henselt spielt nicht gern vor, wie dies auch bei manchem Andern seines Faches, der eben nicht Leierkasten sein mag gefunden wird. Aber wir bekamen dennoch ein hübsches Konzertprogramm zu hören. Und welches war wohl die erste Piece? Sie rathen es nicht, und wenn Sie sämmtliche klassische und romantische Werke der ganzen Literatur citiren! Darum sei’s gesagt! Hört Ihr Pianisten, hört Ihr Dilettanten, Ihr Vergnügungssüchtigen, die Ihr nur naschen, nicht speisen wollt und gern viel können, aber nicht lernen möget! Da saß der mächtige, den eine Welt der Besten bewundert und spielte uns zuerst „seine“ Fingerübungen vor! ja: „vor“, nicht nur für sich; wir sollten hören, wie er zu üben pflegt. Und wir hörten denn auch seine Fingerübungen – nicht nur mit Interesse, sondern auch mit Nutzen. Diese Fingerübungen waren nicht etwa, wie es zu sagen wohl nöthig sein könnte, die „Etüden“ des Meisters – Poesien im Passagengewande – sondern sie heißen ganz angemessen: „Exercices préparatoires“ und sind in Petersburg bei Strallowsky zu kaufen – weshalb ich über den Inhalt schweige und nur Etwas über die Ausführung sage. Diese war im Tempo meist sehr gemessen, fast ruhig und dabei äußerst gewichtig im Anschlagdrucke, so fast, als ob drei Orgelmanuale bei vollem Werke gekoppelt unter den Fingern des gewaltigen Klaviaturbeherrschers zu dulden gehabt hätten. Dies galt der Ausbildung der Finger-Mechanik. Wie fein dagegen das Henselt’sche Pianissimo und überhaupt seine Schattirungskunst war, ist zu sagen wohl überflüssig. – Die Vortragsweise der von Henselt gespielten Stücke hatte einen merkwürdig festen Typus; der Totaleffekt war etwa, wie wenn die Musik, in gediegenes Silber gegossen, gleichsam in vollendeter Form sichtbar vor uns stände.

Das Programm, zuerst namentlich Chopin und Henselt enthaltend, wäre aber nicht so ergiebig ausgefallen, wenn wir nicht auf C. M. v. Weber gekommen wären. Es stellte sich bald heraus, daß Henselt sich ganz vorwiegend (außer seinen eigenen Kompositionen) Chopin und Weber zuwendet, mit Weber aber geradezu eine Art Kultus treibt. Gewiß stehe ich nicht vereinzelt mit der Ansicht, daß Weber, den Uebergang vom Klassischen zum Modernen im Klaviersatze vertretend, mit der neuen Breite auch die alte Enge des Satzes vielfach unproportionirlich verbindet – eine Enge, die im Klassischen nicht eine solche ist, sondern nur im Modernen empfunden wird, wo das Prinzip auf weitere klavierräumliche Dimensionen gerichtet ist, ein Princip, das speciell in Weber’s Handnatur ein geeignetes Organ fand und zudem auch in der Beseelung des etwas üppig empfindenden Euryanthenkomponisten fruchtbaren Boden fand. Hier sind Weber und Henselt offenbar innerlich verwandt und sie reichen einander die Hände – zum Handwerk in klaviristischer Beziehung.

Henselt hat nun in Weber’s Satze eine Art technischer und klanglicher Ausgleichung vorgenommen; er spielte uns zum Theil die As-dur-Sonate op. 39 und das Konzertstück op. 79 mit seiner Retouche und erzielte damit einen prachtvollen Effekt, so, daß ich eifrig zur Veröffentlichung der Arbeit (die überaus wählerisch gemacht ist) zuredete. Henselt aber sprach sich auffallend bescheiden, fast scheu dagegen aus. Er meinte etwa, er habe seines Lieblings Schöpfungen nur für sich retouchirt; er fühlte, er stehe von Herzen so innig mit dem Originalschöpfer, daß er der freundlichen Gewährung desselben, falls er auferstände, gewiß sei; aber mit der Arbeit vor’s Publikum zu treten, könne Mißverständnisse erzeugen. Wahrhaft fürchterlich schien Henselt der Gedanke zu sein, man könne glauben, er wolle als ein „Verbesserer“ Weber’s gehalten werden, wo er doch in dessen Architektur höchstens nur einige Draperie anzubringen beabsichtigte. Kurz, nur mehrfache Beschwichtigung (dahin lautend, daß die Verständigen wohl den richtigen Standpunkt einnehmen würden) schien Henselt der Herausgabe ein wenig geneigter zu machen[.] Nun ist sie – nach 20 Jahren – geschehen. Es erschienen bei Schlesinger in Berlin folgende Weber-Henselt’sche Werke:

Op. 12. Momento capriccioso 17½ Sgr. Op. 24. Sonate in C-dur 2 Thlr. Das Finale als sogenanntes „Perpetuum mobile“ 25 Sgr. Op. 39. Sonate in As-dur 2 Thlr. 15 Sgr. Op. 49. Sonate in D-moll 2 Thlr. 15 Sgr. Op. 65. Aufforderung zum Tanz 1 Thlr. Op. 72. Große Polonaise in E-dur 1 Thlr. Op. 79. Konzertstück in F-moll 2 Thlr. 15 Sgr.

Henselt’s Arbeit besteht namenttich in stellenweise erhöhter harmonischer Füllung und in Hinzufügung einzelner Klanglichter, in dem Sinne, in welchem Weber es heute wohl vielfach selber thun würde. Außerdem hat Henselt noch Vortragsbezeichnung und guten Fingersatz hinzugefügt, wie auch die Verzierungen genau in Noten geschrieben; er erfüllt vielleicht noch meine Bitte, für eine neue Auflage auch die Metrvnomisirung (lediglich dem Hauptthema angepaßt) anzubringen. Den Originaltext hat Henselt überall in großen Noten fortlaufend gegeben und seine (oft wenig abweichende) Spielart in kleineren Noten stehen lassen.

Wie ich über dergleichen Hinzufügen von Füllung und resp. Varianten überhaupt denke, dürfte wohl im Sinne der meisten Musiker sein, welche nicht aller individuellen Freiheit feindlich gesinnt sind. Zunächst möchte es wohl als festgestellt gelten, daß Weber’s Satz an sich überhaupt keine solche Bedeutung hat, wie der von Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven – abgesehen vom Inhalte. Bei diesen Meistern ist daher eine Retouche nur selten angebracht und macht leicht böses Blut. Ich meine dann weiter zur Sache: daß jede Aenderung begründet sein müßte und daß das Original, mit allen seinen wirklichen oder eingebildeten Schwächen, immer bestehen bleibe und seine oberste Bedeutung behalte, daß man also die Retouche nie als das absolut Vorzuziehende gebe oder nehme, sondern als Etwas, das neben dem Original beliebig und mit Wahl acceptirt werden könne.

Es giebt Fälle, in welchen eine Ausgleichung der Harmoniefülle, wenn sie sonst im Sinne des Ganzen ist, wünschenswerth sein kann, wie z. B. im Konzertsaal.

An den eigentlichen gedanklichen Text hat Henselt nur in ganz ver | einzelten Fällen geändert, und zwar meiner Meinung nach, gebessert, nämlich da, wo Weber gewisse kleine Dilettantismen begeht, z. B.

Notenbeispiel anstatt bei + Notenbeispiel

Es sind derartige kleine Muttermale ganz natürlich in einem historischen Uebergangsstadium; man findet darum auch z. B. bei Gluck manche „äußerliche“ Unvollkommenheiten.

Es sei die Henselt’sche Ausgabe der Weber’schen Klavierstücke hiermit einer Beachtung namentlich aller derjenigen Spieler anempfohlen, welche im Konzert oder Salon wirken; sie mögen immerhin mit verschiedenen Zuthaten resp. Aenderungen nicht einverstanden sein und diese dann unberücksichtigt lassen: gewiß aber werden sie gar Manches gern annehmen, sich des erhöhten Effektes freuen und dem Herausgeber, der ja wohl, wie selten ein virtuoser Klavierkomponist, die allgemeine Verehrung genießt – dankbar sein. Louis Köhler.

Apparat

Zusammenfassung

Rezension einer Bearbeitung Weber'scher Klavierkompositionen von Adolf Henselt

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Jakob, Charlene

Überlieferung

  • Textzeuge: Allgemeine Deutsche Musik-Zeitung – Wochenschrift für das gesammte musikalische Leben der Gegenwart, Jg. 1, Nr. 29 (16. Oktober 1874), S. 261–262

    Einzelstellenerläuterung

    • „… mir auch Hrn. Jean Vogt“Jean Vogt (1823–1888) war von 1850 bis 1855 als Organist und Klavierlehrer in St. Petersburg tätig, ab 1873 in Berlin.
    • namenttichrecte „namentlich“.
    • Metrvnomisirungrecte „Metronomisirung“.

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