Julius Rietz an Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
Dresden, Mittwoch, 13. Januar 1875
Einstellungen
Zeige Markierungen im Text
Kontext
Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1874-01-25: an Jähns
- 1874-02-18: von Jähns
Folgend
Korrespondenzstelle
Vorausgehend
- 1874-01-25: an Jähns
- 1874-02-18: von Jähns
Folgend
Sehr verehrter Freund,
Die Tage des 30 u. 31ten Oktober, u. des 1ten November v. J.* waren schön, erhebend, ehrenvoll — aber auch aufreibend, erschütternd u. übermäßig anstrengend, zumal es der Zufall wollte, daß ich an den 3 aufeinanderfolgenden Tagen Antigone, Zauberflöte u. Tannhäuser dirigiren mußte! Es war damals meine Absicht zur Erholung auf eine Woche Urlaub zu nehmen u. diese in Berlin zuzubringen; aus mehr als einem Grunde, hauptsächlich damit meine Tochter die alte Vaterstadt endlich einmal kennen lerne, damit ich für das viele Freundliche u. Gute, was mir zu dem Jubiläum von dorther gekommen war, auch Einmal meinen Dank ausspreche. Aber ich soll mir nur etwas hübsches vornehmen! Seit dem August 1873 quält mich ein recht fatales Leiden am linken Bein, bald stärker, bald schwächer; zuweilen entwickelt sich auch eine offne Wunde, die dann für einige Zeit heilt, wieder aufbricht u. s. f. Es ist ein sehr lästiges u. zu Zeiten zum Tollwerden schmerzhaftes Übel, eine Venenausdehnung. Es hatte mich gerade im Oktober ziemlich in Ruhe gelassen u. verschonte mich auch während der drei gewissen | Tage. Nun war aber seine Geduld erschöpft und es holte endlich nach, was es an mir versäumt hatte. Genug es kehrte in einer Weise zurück, wie es kaum je gewesen war, zwang mich in der erbärmlichsten Weise zu humpeln, in’s Theater zu fahren, mühsam meinen Sitz erklimmen und den ganzen Abend auf demselben zu verharren, zu Hause aber den größten Theil des Tages zu liegen u. zu faullenzen. Aus Berlin wurde nichts u. aus den vielen Danksagungsschreiben, zu denen ich verpflichtet war, wurde auch bis jetzt nichts. Hat man mir’s übel genommen, so thut es mir leid, ich muß mir’s aber gefallen lassen; ich hätte lieber gesessen, geschrieben u. Rheinwein dazu getrunken, als gelegen, Schmerzen ausgestanden u. Wassersuppe gegessen. Seit 14 Tagen behandelt mich ein anderer Arzt u. wie es scheint mit gutem Erfolg, doch will ich nicht triumfiren sondern ruhig abwarten! — Nun, verehrtester Freund, kennen Sie, aufs treueste geschildert, den Grund meines langen Stillschweigens; ich hoffe, daß er Ihnen ein zureichender sein wird. Ich hole alles Versäumte schon späterhin nach, bin ich nur erst wieder in einem einigermaßen dauerbaren u. verläßlichen Zustande. Nehmen Sie einstweilen meinen herzlichsten u. tiefempfundensten Dank für Ihre beiden wunderschönen Briefe zum 1. u. 30 October, die mich wahrhaft entzückt u. gerührt haben, freundlich auf. Einen nicht blos aus Worten bestehenden andern Dank muß ich mir aufsparen. Pro hodie contenti estote! — Ihre Frage wegen einer Reißigerschen Messe präcis u. ohne Umstände zu | beantworten, macht mir durchaus keine Schmerzen. Was der Mann in England* verlangt, vereinigt sich am prägnantesten in der Hmoll Messe (ob no 9 oder 11 weiß ich nicht, R. hat nur die eine in Hmoll geschrieben) Sie ist weder trocken gelehrt, wie die sogen. Fugenmesse, noch hat sie den gewissen Anstrich von Oberflächlichkeit ja Trivialität, welcher leider auch einigen R.schen Messen eigen ist. Ich würde diese Messe unter allen Umständen vorzugsweise empfehlen; dann die in Fdur no 3; eine mit obligater Orgel ist mir auch sehr lieb; doch hat sie etwas starres, strenges, ist nicht recht melodiös, aber von sehr würdiger Haltung. Schlagen Sie daher nur die in Hmoll vor, der Engländer wird sich durch dieselbe sehr befriedigt fühlen.
Da hat ein loser Schalk einen alten Dresdner Kapellmeister aufs Korn genommen u. dessen Stellung u. sonstiges Gebahren aus dem Gedächtniß gezeichnet, wenn er sich bei der 3ten Wiederholung einer langweiligen Dialogscene aufs grimmigste ennuyirt. Das Blättchen ist photografirt worden; hier ist ein Abdruck. Ob Sie wohl den Alten erkennen?
Leben Sie recht wohl, halten sich gesund, frisch u. tapfer u. bleiben mir
gewogen.
In alter Freundschaft Ihr ganz ergebener
Julius Rietz.
Dresden
den 13ten Januar
1875.
Apparat
Zusammenfassung
entschuldigt sich, dass er nicht auf seine „wunderschönen Briefe“ zu den vorjährigen Feierlichkeiten bisher geantwortet hat, war durch ein langwieriges Beinleiden an allem gehindert
Incipit
„Die Tage des 30 u. 31ten Oktober“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Stockholm (S), Stiftelsen Musikkulturens främjande (S-Smf), Nydahl Collection
Signatur: Ser. I, Nr. 3408Quellenbeschreibung
- 1 DBl. (3 b. S. o. Adr.)
- am oberen Rand der ersten recto-Seite von F. W. Jähns (Tinte): „Dr. Jul. Rietz, Königl. Sächs. General-Musikdirektor zu Dresden geb. 1812. — nebst Photographie | an F. W. Jähns.“
Einzelstellenerläuterung
-
„… 1 ten November v. J.“Rietz beging sein vierzigjähriges Dirigentenjubiläum und erhielt in diesem Zusammenhang den Titel eines königlich sächsischen Generalmusikdirektors.
-
„… Was der Mann in England“Vermutlich der Musiker Charles John Hargitt, mit dem Jähns zu dieser Zeit korrespondierte (auch bezüglich der Kirchenmusik Webers).