Therese Atmer: Jugenderinnerungen an die Familie Edmund von Webers
In den Jahren 1810 oder 11 zog mein Vater, Edmund von Weber nach Bern in der Schweitz*, wo er, so viel ich mich erinnern kann aus den ersten Jahren meiner Kindheit (Anno 15 oder 16) ein großes Musik-Institut gegründet hatte*, welches von vielen Personen, beiderlei Geschlechts besucht wurde. Er zählte unter Andern, auch die Gemahlin des Östreichischen Gesandten* – welcher uns grade [gegen]über wohnte – und viele adliche Damen, in Bern’s Umgebung zu seinen Schülerinnen. Dieselben sandten dann ihre Equipagen zur Stadt, um meinen Vater abholen zu lassen. Ueberall wurde er als Freund empfangen, und weilte oft mehrere Tagen auf diesen herrlichen Gütern. Bisweilen nahm er auch mich mit, was dann natürlich eine große Begebenheit für mich war, die sich unauslöschlich in mein Gedächtniß einprägte. – Wie ich später oft erwähnen hörte, waren die Eltern haupt|sächlich nach der Schweitz gezogen, weil es dort, verhältnismässig, weit ruhiger war von dem Kriegslärm der ganz Europa erschütterte, obgleich auch da oft Durchzüge und viele Einquartierungen von fremden Truppen stattfanden. –
Vater wechselte oft Briefe mit seinem inniggeliebten Bruder C. M. von Weber, und weil wir aus den Gesprächen meiner Eltern nur immer die erhabensten Äußerungen über den uns unbekannten Onkel hörten, glaubten wir beinahe ein höheres Wesen in ihm zu erbliken und unsere Sehnsucht ihn einst sehen zu können, wuchs mit jedem Jahre. Ich spreche hier von mir und einer 15 Monat ältern Schwester*; einige andere Geschwister waren früh gestorben. Der älteste Sohn meines Vaters (aus erster Ehe[)], Carl, war schon vor meiner Geburt aus dem Hause, der 2te | Sohn, Moritz, verließ uns, als ich 3 oder 4 Jahre alt war. Beide waren sehr musikalisch, Carl sogar Künstler auf mehreren Instrumenten, namentlich Cello, aber ein wilder Patron. Vater hörte selten von ihm, und dann immer nicht viel Angenehmes. Er konnte Nirgend aushalten – sich mit Niemand vertragen, weil er ein brutales Wesen hatte. Zuletzt kam er doch nach London, wurde dort in einer Capelle angestellt und ist vor etwa 20 Jahren oder mehr, daselbst gestorben*, wie mir erzählt wurde, denn etwas Bestimmtes habe ich nie erfahren. – Moritz kam nach Amsterdam ins Orchester, übernahm gleich nach seiner Ankunft die Direktion einer großen Oper, wegen plözlicher Krankheit des Kapellmeisters und führte sein schwieriges Amt zu allgemeiner Zufriedenheit aus; damals war er 19 Jahre alt*; aber freilich der Name seines | berühmten Onkels, gab ihm Zuversicht und Glaubwürdigkeit. Aus ihm hätte etwas werden können; aber er gerieth in seiner Unerfahrenheit an eine unbedeutende Sängerin, welche ihn bald ganz unterjochte*. Sie wollte durchaus eine große Sängerin sein, und weil ihr dies bei größeren Bühnen nicht glückte, zog sie nun mit Moritz, der sie, gegen des Vaters Willen, geheirathet hatte, an kleinen Theatern umher. Moritz war schwach genug ihr in Allem zu folgen, fühlte sich aber nicht glücklich. Sie hatten mehrere Kinder* und die Einnahmen waren oft nicht hinreichend. Er härmte sich über sein verfehltes Leben, bekam die Abzehrung und starb noch sehr jung*. –
Mein Vater reiste gegen Ende der 20ger Jahre nach Lübeck*, wo Carl Maria ihm eine einträgliche Organistenstelle | verschafft hatte*; denn wie er oft in seinen Briefen erwähnte: er wünsche Edmund sich näher zu haben; Bern liege so gänzlich aus dem Wege; (damals war es ja noch eine große, kostspielige Reise) wenn Ed. inmitten Deutschland’s wohne, könnten sich die Brüder öfter sehen u. s. w. – Mein Vater ergriff mit Freuden die ihm dargebotene Stelle! Auch ihn zog die Sehnsucht zum Bruder, und das unruhige Weber’sche Blut machte ihm eine Veränderung auch lieb; obgleich er in Bern, wie mir jetzt scheint, eine außerordentlich angenehme Stellung innehatte. Waren große Concerte oder Musikfeste wurde‡ in den größern Städten, so wie Basel, Schaffhausen, Zürich, wurde er, theils als Dirigent oder als Concertant dazu eingeladen*; – er war Virtuose auf dem Contrebasse – und seine Messen, deren er | viele schrieb, wurden in allen großen katholischen Kirchen aufgeführt und gut honorirt. – Meine Mutter weinte oft, wir Kinder verstanden das nicht, denn wir freuten uns natürlich auf die Veränderung. Später aber erfuhren wir von ihr, daß sie geahnt, wie von da ab, Alles ruhige Leben für uns geflohen, und leider hatte sie Recht!
Mein Vater war in Lübeck nur einige Jahre*. Er wurde zwar dort sehr freundlich aufgenommen in den großen Kaufmanns und Senatoren Häusern; aber der Geist dieser Classe hängt‡ doch zu sehr am Materiellen und so konnte eine wirkliche Künstlernatur sich dort nicht glücklich fühlen. Ich glaube die Brüder sahen sich einigemale in Hamburg oder Dresden*. Onkel schrieb damals an Vater, daß er‡ mich zu sich zu nehmen wünsche, da ich großes musikalisches Talent zeige | und er mich zur Sängerin ausbilden möchte. Als C. Maria nun endlich nach Lübeck kam, uns zu besuchen, wurde ich aus Angst, meine Mutter verlassen zu sollen, so krank, daß ich meinen theuren Onkel nur im Bette empfangen konnte. Damals wurde nun beschlossen daß ich nach Verlauf eines Jahres meines Onkels Haus besuchen solle*. –
Nach einigen Jahren die mein Vater in Lübeck verlebt hatte, bekam er einen Engagementsantrag von Direktor Schröder (ich glaube so hieß er) der ihm die Capellmeisterstelle für Danzig und Königsberg anbot*. Mein Vater war froh, das‡ für ihn so langweilige und trivielle Leben in Lübeck verlaßen zu können. Mutter und wir Kinder blieben noch längere Zeit in Lübeck*. Kaum zwei Jahre in dortiger Stellung sich befindend, | erhielt er einen glänzenden Antrag von Direktor Ringelhardt in Cöln*, dessen Frau eine Nichte meines Vaters war. Sie war die Tochter von meines Vaters ältester Schwester, geb. Jannette von Weber, verheirathet an den Juwelier Weirauch in Petersburg*, ehemals eine beliebte Sängerin in den Rollen der Constanze, Königin der Nacht. u. s. w. – In Cöln gefiel es uns Allen sehr gut; doch das Schicksal wurde nicht müde uns zu verfolgen. Meine Mutter begann zu kränkeln; mein Vater verspürte oft Brustschmerzen und heftigen Husten und als nun die furchtbare Nachricht von C. Marias Tode die Welt erschütterte, befiel meinen Vater eine schwere Krankheit. Als er sich scheinbar erholt, rieth ihm der Artzt nach Baden-Baden zu gehen. Dort wurden ihm die theuren Briefe seines unvergesslichen Bruders gestohlen, die er in einem Kästchen mit sich führte und | von welchem er sich nie trennte. – So kam Schlag auf Schlag und der arme alte Mann, konnte sich nicht mehr erholen. Er kam wieder zurück, kränkelte noch einige Jahre und verschied dann an der Brustwassersucht, nachdem wir 1 Jahr früher nach Würzburg gezogen waren*, theils der gesunden Luft wegen und theils weil Mutter dort einen geschickten Doktor gefunden zu haben glaubte, der ihre schrecklichen Leiden zu heilen hoffte. Diese Hoffnung war jedoch vergebens und nach 1 ½ Jahre starb auch sie, uns beide mit 15 und 16 Jahren als Weisen zurücklassend*.
Therese Atmergeb. von Weber.
Tochter von Edmund v. Weber
Apparat
Zusammenfassung
Kindheitserinnerungen von Therese Atmer, geb. von Weber, niedergeschrieben für F. W. Jähns (laut dessen Weberiana-Katalog im Jahr 1875), in Details fehler- sowie lückenhaft (vgl. die Anmerkungen)
Generalvermerk
Zu Therese Atmer vgl. Christoph Siems in: Weberiana 30 (2020), S. 11–28
Entstehung
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Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Frank Ziegler
Überlieferung
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Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Signatur: Weberiana Cl. V [Mappe XVIII], Abt. 4C, Nr. 44aQuellenbeschreibung
- 2 DBl. und 1 Bl. (9 b. S.)
- mit Annotationen von F. W. Jähns (besonders auf der von Therese Atmer nicht beschriebenen S. 10)
- Beilage: Briefumschlag, in dem das Manuskript an „Herrn Professor Jähns | hieselbst“ gesandt wurde (aber ohne das dazugehörige Anschreiben)
Textkonstitution
Wiedergabe ohne die Jähns-Annotationen
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„wurde“durchgestrichen
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„hängt“am Rand hinzugefügt
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„er“„ich“ durchgestrichen und ersetzt mit „er“
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„s“„ß“ überschrieben mit „s“
Einzelstellenerläuterung
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„… nach Bern in der Schweitz“Edmund von Weber kam im Februar 1812 als Musikdirektor der Denglerschen Theatertruppe nach Bern und blieb dort bis Herbst 1819; vgl. Weberiana 18, S. 28f. und 32.
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„… ein großes Musik-Institut gegründet hatte“Edmund von Weber gehörte zu den Gründungsmitgliedern der am 23. November 1815 konstituierten Musikalischen Gesellschaft Bern.
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„… die Gemahlin des Östreichischen Gesandten“Seit 1807 bis zu seinem Tod war Franz Alban von Schraut (1745–1825) österreichischer Gesandter in der Schweiz.
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„… einer 15 Monat ältern Schwester“Die Schwester Viktoria Josephine war 15 Monate jünger als Therese von Weber.
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„… 20 Jahren oder mehr, daselbst gestorben“Eine Londoner Anstellung konnte bislang nicht nachgewiesen werden, sie wäre im Zeitraum zwischen 1828 und 1839 zu vermuten, danach ist Carl von Weber durchgehend als Musikdirektor in Mitteldeutschland bezeugt. Er starb am 25. Januar 1841 in Sondershausen; vgl. Allgemeine Theater-Chronik, Jg. 10, Nr. 21 (19. Februar 1841), S. 82.
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„… damals war er 19 Jahre alt“C. M. von Webers Hamburger Tagebuchnotizen vom September/Oktober 1820 bezeugen Moritz von Webers Anwesenheit in Hamburg. Ende 1822 war er am Danziger Theater unter seinem Vater Korrepetitor; vgl. Taschenbuch für Schauspieler und Schauspielfreunde auf das Jahr 1823, hg. von Wenzel Lembert, Wien [1822], S. 384. Demnach dürfte die behauptete Anstellung in Amsterdam ins Jahr 1821 fallen. Zu dieser Zeit waren Albert Schirmer und Carl Ritzler Musikdirektoren am deutschen Theater in Amsterdam.
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„… welche ihn bald ganz unterjochte“Die Hochzeit fand am 7. Juli 1825 in Arnsberg statt; vgl. die Traubestätigung.
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„… glücklich. Sie hatten mehrere Kinder“Gemeinsame Kinder des Ehepaars waren: Edmund (1826–1896), Friedrich Hubert, Augusta Friederike (1829–1830), Peter Anton (1830–1895), Alexander (1833–1834), Wilhelmine Leonhardine (1836–1839) sowie ein ca. Mitte 1837 geb. weiterer Sohn.
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„… und starb noch sehr jung“Moritz von Weber verbrachte seinen Lebensabend beim Sohn Friedrich Hubert in Pfarrkirchen (Niederbayern), wo er am 12. April 1881 fast achtzigjährig starb.
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„… der 20ger Jahre nach Lübeck“Edmund von Weber traf am 28. November 1819 in Lübeck ein; vgl. Lübeckische Anzeigen, 1819, Nr. 96 (1. Dezember).
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„… eine einträgliche Organistenstelle verschafft hatte“Weber war nicht Organist, sondern Musiklehrer in Lübeck; vgl. Lübeckisches Addreßbuch 1821, gedruckt und verlegt von Georg Christian Schmidt, S. 271. Zwischenzeitlich (Oktober 1820 bis Mai 1821) war er als Musikdirektor am dortigen Theater beschäftigt.
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„… oder als Concertant dazu eingeladen“Seit 1812 war Edmund von Weber Ehrenmitglied der Schweizerischen Musik-Gesellschaft, 1813 „Taktführer“ beim Treffen der Gesellschaft in Bern; vgl. Protokoll der Schweizerischen Musik-Gesellschaft 1818.
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„… in Lübeck nur einige Jahre“Der Lübeck-Aufenthalt dauerte von November 1819 bis September 1821; vgl. Abschiedsanzeige in: Lübeckische Anzeigen, 1821, Beylage zu Nr. 71 (5. September).
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„… für Danzig und Königsberg anbot“Edmund von Weber war von Oktober 1821 bis März 1824 in Danzig und anschließend bis Sommer 1824 auch in Königsberg Musikdirektor der Schröderschen Gesellschaft; vgl. Festschrift Veit, S. 757.
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„… noch längere Zeit in Lübeck“Wann die Familie nach Danzig nachreiste, ist unbekannt. Verbürgt ist die Anwesenheit der Töchter Weber in Danzig im Frühjahr 1824: Sie wirkten im letzten dortigen Konzert ihres Vaters am 22. März 1824 im Saal des Hôtel de Berlin als Gesangssolistinnen mit; vgl. den Konzertzettel in D-B, Weberiana Cl. V [Mappe XX], Abt. 7, Nr. 41.
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„… von Direktor Ringelhardt in Cöln“Unter Ringelhardt war Edmund von Weber von Spätsommer 1824 bis 1826 in Köln und Aachen tätig; vgl. Festschrift Veit, S. 757f. Die nachfolgende Zeit in Detmold (1827 bis Spätsommer 1829; vgl. ebd., S. 758–768) wird von Therese Atmer nicht erwähnt.
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„… den Juwelier Weirauch in Petersburg“Vincent Weyrauch war nicht Juwelier, sondern Schauspieler und Sänger, zuletzt in Petersburg, wo er 1802 starb.
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„… früher nach Würzburg gezogen waren“Die Übersiedlung der Familie nach Würzburg hängt mit dem Engagement Therese von Webers am dortigen Theater (Debüt am 17. September 1829) zusammen. Im Dezember 1830 starb dort Edmund von Weber; vgl. Festschrift Veit, S. 768.
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„… und 16 Jahren als Weisen zurücklassend“Die Mutter starb sieben Monate nach ihrem Ehemann im Juli 1831; vgl. Festschrift Veit, S. 768f. Zu diesem Zeitpunkt war Therese fast 33 Jahre alt, ihre Schwester knapp 32.