Bericht von einer italienischen Theateraufführung in Verona
Theater in Verona.
Am 20. September 1819.
Ich konnte es kaum erwarten, ein italienisches Schauspiel zu sehen, und selbst die Bemerkung meines hier erworbenen Freundes, des Grafen Bevilaqua de Lazise, daß dieselbe Gesellschaft, die des Abends um 7 Uhr spielen werde, schon um 4 Uhr Nachmittag im Theater der Arena vor dem Volke arbeiten müsse, konnte meine Ungeduld nicht schwächen. Als ich nämlich mit dem Grafen die in vieler Hinsicht so merkwürdige Arena – das altrömische Theater – besuchte, sahen wir eine schlechte bret[t]erne Bude aufgeschlagen, mit Zelttuch überspannt, in der Form eines Fächers, dessen größter Bogen das Publikum faßte, welches – nur den blauen Himmel über sich – auf den altrömischen Sitzen Platz genommen hatte. Die Versammlung war zahlreich, der eingehegte Raum zwar hoch, weit amphitreatralisch aufsteigend, aber ziemlich eng; daher war es geschehen, daß die consularischen und Volkstribunensitze, so wie die Bänke der Ritter, von resp. Schustern, Schneidern und Bäckern, die höhern aber, in denen sonst die weibliche römische Jugend prangte, von Bettelknaben und Mädchen eingenommen waren, die hier gratis zugelassen wurden. Bevilaqua, dessen lehrreichen und liebenswürdigen Umgang ich jedem Fremden sich zu verschaffen wünsche, was bei des jungen Mannes herzlicher Freundlichkeit gar nicht schwer ist – Bevilaqua also stieg eben mit mir in den Kanälen herum, die unter der Arena hinlaufend und sich bis zur Etsch erstreckend, zum Einlaß und Aufstauen des Wassers bei den Naumachien gedient hatten, als wir plötzlich ein fürchterliches Gebrüll über uns hörten – wir standen eben unter der Thespisbude – ein gräßliches Gurgeln und Röcheln ließ sich vernehmen. „Jetzt stirbt er!“ – sagte Bevilaqua ruhig. „Wer, um’s Himmelswillen?“ so rief ich, den Grafen erfassend, von allerhand dunkeln Vorstellungen geängstet, denn wir hatten kurz vorher die Todtenpforte gesehen, in welche bei Kampfspielen die Leichen der erschlagnen Gladiatoren mit eisernen Haken hinabgezogen wurden. „Wer?“ – rief ich, Zeit und Ort vergessend – „der Held des Stückes“ erwiederte Bevilaqua lächelnd. Ein wüthendes Beifallklatschen bestätigte was er sagte. Nie, nie – selbst auf Schlachtfeldern, hörte ich ein solches abscheuliches Gebrüll! Betäubt stieg ich mit meinem Begleiter empor und umwandelte stillschweigend und mancherlei Gedan¦ken in der Brust umwälzend, den äußersten Rand des colossalen Baues. Wir botanisirten hier aber gar nicht unersprießlich, kamen dabei wieder in’s Gespräch und als wir herabstiegen, ging eben die Sonne prächtig über Verona unter. Die fernen Tyroler Gebirge erschienen im violetten Duft, in der Nähe flammten die Doppeltürme von St. Anastasia im Goldglanz, und in immer heller werdenden Purpurtinten legten sich die letzten Lichter weit über die lombardischen Ebnen hin. Die alte Alboinsburg des Longobarden Königs und der spitze Pipinsthurm blieben noch lange hell! – ich eilte in’s Hotel, um meine Briefe zu schließen, und dann in das eigentliche Theatergebäude mitten in der Stadt. Der Graf wartete meiner in seiner bequemen Loge. Das Theater ist sehr groß und sehr schön decorirt. Das Orchester, nicht stark und in einen Winkel zusammengedrängt, spielte eine der ältern Sinfonien Haydn’s recht sehr gut, etwa so wie unser ehemaliges Orchester auf dem Linkeschen Bade. Die Güte der italienischen Instrumente ließ sich an dem einzigen Contrabaß deutlich abnehmen. Ich verlor keine Note, und alles war voll Ton. Die Versammlung war zahlreich und sehr still. Die Männer behielten die Hüte auf. Das Stück selbst, l’ospizio de’ Orfani, war aus dem Abbée de l’Epée und Florian’s Novelle: Clandine, zusammengesetzt, nicht ohne Geist und offenbar für diese Gesellschaft, deren Haupt sich Vestris nennt, geschrieben. Wie war ich verwundert, in dem Komiker – hier Carrateristico genannt – den brüllenden Helden der Arena wieder zu erkennen! Aber welche Veränderung! Sein Ton war laut, aber wohlklingend, seine Declamation richtig, seine Aussprach sanft und sein Spiel äußerst fein! Das bekannte theatralische drastische Mittel, Rührung hervorzubringen – Kinderrollen, waren nicht gespart. Zwei sehr hübsche Knaben concertirten und rivalisirten in den hochtrabendsten, herzbrechendsten Sentenzen und wurden wüthend beklatscht. Die einzige Schauspielerin, die in dem Stücke auftrat, schien ein Liebling des Publikums. Sie war jung aber häßlich, schielte unbarmherzig, schrie unerträglich, karrikirte alles mit unausstehlicher Sentimantalität, kurz erinnerte am meisten an die Arena – aber sie konnte einmal nichts verderben und blieb im Besitz der Gunst. Der Komiker und die Dame wurden herausgerufen. Ein ohrenbetäubendes Bravi empfing sie. Kaum waren sie hinein, so kam der Komiker zurück, um ein neues Stück an|zukündigen. Aber nun stieg der Lärm bis zum Orkan. Der Mann figurirte, wollte sprechen, streckte die Hände noach dem Publikum – umsonst, die Brandung rief ihn zurück. Endlich legte sich der Lärm und nun begann eine der sonderbarten sokratischen Unterhaltungen, die ich je gehört. Der Komiker fragt und das Publikum antwortet, durch si, si – zitto – bravo – via u. dgl. Interiectionen. Er dankte zuförderst – wie in einem Tischgebet – für alles genossene Gute, und versprach für sich und die lieben Seinigen sich fernerhin gut aufzuführen u. s. w. Dann sagte er, es sey auf morgen ein neues componimente – via, via – schrie das Publikum – "gli infelici" – zitto, zitto – „wenn aber – hob der Komikus wieder an – “das Publikum vielleicht lieber das heutige Stück – bravo bravissimo – kam die Antwort, io vi do da scegliere – er hielt einen Augenblick inne – dann fragte er – "l’ospizio degl’ Orfani?" Bravissimo! schrie alles und Komikus verschwand. Das Orchester begann eine neue Ouvertüre, auf die niemand achtete. Errischungen wurden herum gegeben, man sprach so laut, wie in einem öffentlichen Garten, und weil das Haus sehr groß ist, so gingen an einigen Stellen junge Herrn Arm in Arm auf und nieder. Eine Art von Schellengeläut gab das Zeichen zum Anfang des zweiten Stückes, eine Farsa: La casa da vendere – nach dem französischen la maison a vendre. Das Stück ist bekannt. Das Frauenzimmer war wieder unbedeutend, obschon die alte Symphorosma eine ergötzliche Erscheinung. Die andern jungen Männer nicht übel, der Komiker aber – derselbe als im ersten Stück – unübertrefflich. Alle Elemente des Lächerlichen, Gespensterfurcht, Verswuth, Hunger bei gewaltiger Eßlust, waren zusammengeballt, und nie, weder in Frankfurt am Main, noch München, Berlin oder Dresden habe ich feiner komisch spielen sehn. Er war meisterhaft vom Anfang bis zu Ende und die Beifallsbezeigungen des Publikums hielten mit seinem Verdienst gleichen Schritt. – Im Ganzen wurden die zartesten, ernstesten, ja religiösesten Stellen im ersten Stück am meisten beklatscht. Im zweiten die zweideutigen, am meisten ächtitalienische Vorliebe für die Extreme und zuleich ein leiser Fingerzeig, auf welcher Bildungstufe das Publikum sich befindet. Die schlüpfrigen Stellen waren manchmal zur Bewunderung stark. Die Männer applaudirten laut, die schönen Vero¦nerinnen – sie sind in der That größtentheils reizend – lachten still. Umgekehrt applaudirten sie und mancher Laut der höchsten Rührung erklang, wo die Männer nur ein ruhiges Bravo hatten. – Decorationen und Garderobe waren gut und passend. Die Beleuchtung in und auf dem Theater sonnenhell.
Carl Borromäus von Miltitz.Apparat
Zusammenfassung
Bericht von einer italienischen Theateraufführung in Verona
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Überlieferung
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Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 3, Nr. 251 (20. Oktober 1819), Bl. 1v