Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Heinrich der Vierte von Frankreich“ von Eduard Gehe am 6. Juni 1818 (Teil 1 von 2)
Am 6. Juni. In der Stadt. Zum erstenmale: Heinrich der Vierte von Frankreich. Trauerspiel in 5 Akten, von Eduard Gehe.
Auch die Schauspiele haben, wie alle andre Bücher, ihre Nativität, ihr Schicksal in der Geburtsstunde. Die kluge und glückliche Wahl des Gegenstandes, der Fabel, entscheidet hier über Gedeihen und Lebensdauer, ist der Horoskop. Wir fürchten, daß der für die Dichtkunst vielfach ausgestattete Verfasser, der schon durch seinen Gustav Adolf seinen Beruf zur dramatischen Dichtkunst bewiesen hat, sich von dem welthistorischen Interesse, welches die Ermordung Heinrichs IV. durch Ravaillac gehabt hat, zu einer Wahl bestimmen ließ, die reich an einzelnen Situationen, doch, so dargestellt, wie es hier geschah, durchaus der innern Einheit und einer ganz befriedigenden Auflösung entbehren mußte. Daher das Schwankende zwischen einzelnen gut angelegten Charactergemälden und der tragischen Entwickelung. Darum das Unbefriedigende des fünften Akts. Sehr richtig fühlte der Verfasser, daß die Ermordung selbst nicht auf der Bühne vorgehn könne. Er gestattet sich also die gewagte Abweichung von der Geschichte, und läßt den König in Notre Dame, bei der wirklichen Krönung der Medizeerin, unter dem Dolch des Mörders fallen. Nun giebts eine glänzende Krönungsprocession, wo wir das dem Tode geweihte Schlachtopfer nicht ohne innern Graus noch unter dem Baldachin vor uns vorüberschreiten sehn. Es fehlt aber diesem Ausgange des Stücks an einem beruhigenden, versöhnenden Princip. Das fühlen die Zuschauer und bleiben kalt, auch bei der Schlußrede des ehrlichen Sully. Wir hätten wenigstens den Schmerz der Königin noch hier zu erblicken gewünscht. Zwar ist die söhnende Nemesis nicht ausgeblieben. Sieben Jahre später wurde die arglistige Florentinerin, die Galigai, als Hexe hingerichtet. Spanien und der geheime Ordensrath, in welchem Ravaillacs Mordmesser geschliffen wurde, sie haben beide später ihren Lohn empfangen. Aber wie kann das in einem Trauerspiele dargestellt werden, dessen Katastrophe bloß die Ermordung seyn soll? Shakespeare und Göthe haben sich in Macbeth und Egmont aus ähnlicher Verlegenheit durch eine Vision gezogen. Diese hatte sich aber der Verfasser schon durch die Zauberscenen der Pasithea weggenommen, und wir wüßten auch wirklich kaum, wie sie hier noch anzubringen gewesen wäre. Mit Recht verschmähte der Verfasser die Einmischung irgend eines Liebhandels, womit die Franzosen ihre politischen Trauerspiele so gern zu würzen pflegen. Da es aber einmal ein großes Staats-Drama seyn sollte, warum legte er nicht mehr Beziehung auf den riesenhaften Plan, den Ravaillac’s Dolch durchschnitt, die ganze Christenheit auf eine einzige Republik von 15 mit einander vereinigten Staaten zu bringen, worüber uns Toze schon vor 60 Jahren ein sehr gutes Buch gab? Wir erfahren hiervon nur im Vorbeigehn etwas gleich in der ersten Scene, und durch das, was der König dem Sully sehr undramatisch in die Feder dictirt. Wir können uns aber ein Drama denken, wo mehr als ein Posa mit dem edeln Heinrich und Sully idealisirend zusammen traten, und Ravaillac’s Mordgenossen, wie der gute Genius dem bösen, entgegen stünden, in dem freilich das Haupt der tugendhaften Verbrüderung fiel, aber die Glieder über der Leiche ihre Gelübde erinnerten. Nur möchte so etwas freilich nicht auf vielen Bühnen Zutritt erhalten!
Da das Stück wegen seines übrigen Vollgehalts und durch das lobenswerthe Aufgebot aller scenischen ¦ Künste, mit dem es bei uns gegeben wird, gewiß, wie es verdient, öfter gespielt werden wird; so mag obiger Zweifel nur als erweckend und aufregend gelten, und zu weitrer freier Discussion unter uns führen. Auch dürften wir wohl selbst noch einmal darauf zurückkommen. Setzen wir uns über jene Zweifel weg, so fordert es die Gerechtigkeit, einzugestehn, daß der noch jugendliche Dichter im Anknüpfen und Fortspinnen einzelner Fäden, im Einweben mehrer Warnungen und Ahnungen (wozu wir jedoch keineswegs die zu gehäuften Donnerschläge rechnen wollen), in Zeichnung der Hauptcharactere des chevaleresken frohmüthigen Königs und des fanatisirten Möders, in Zusammenreihen wirksamer Situationen und Scenen und in einzelnen wahrhaft gelungnen poetischen Episoden und mannigfaltigem Dichterschmuck sehr viel geleistet und die erfreulichsten Hoffnungen für die Zukunft begründet hat. Vorzüglich möchten wir ihm die Erfindung der Hauptmaschine im Stück, der zaubernden Pasithea, hoch anrechnen. Vor 25 Jahren spukte auf unsern Bühnen ein schwarzer Unhold: Die Jesuiten, von Hagemeister. Was dort, mit fast empörender Entweihung, das nie zu Entschleiernde frech ausgesprochen wurde, die verruchten Reizmittel des Fanatismus im geheimen Treiben des Ordens, verrichtet hier ihr ostensibles Werkzeug, die Pasithea. Sie ist die dunkelste Nachtseite oder der sichtbare Kakodämon des Stücks. Wäre darüber noch ein Zweifel übrig, wer diese Furie gesendet, so wird er durch die Scene im Pallast des spanischen Ambassadeurs völlig gelöset. Sinnreich ist die jetzt so beliebte Tableauaufstellung als Zurückspiegelung des Zaubercrystalls eingewebt. Wir möchten die darauf Beziehung habenden zwei Scenen, so wie Ravaillac’s Erscheinung auf dem Kirchhof St. Sulpice und im Garten des Louvre und den Sturmlauf der Maria an Heinrichs Widerstand wegen der Krönung, für die dankbarsten und wirksamsten des ganzen Stückes erklären. Ueberhaupt erregt und befriedigt der zweite Akt am meisten, wogegen wir die lange Eingansscene des dritten, zwischen Auvergne und Aubigné, so wacker letztern auch unser Kanow spielte und sprach, für ganz überflüssig erklären und der festen Ueberzeugung sind, daß alles, was nach dem Anklopfen des Todtengräbers und nach der Nachricht, Heinrich sey unwohl, wobei niemand auf der Bühne bleiben kann, bei einer zweiten Vorstellung, so schön auch übrigens die Stanzen seyn mögen, wegfallen müsse.
Dem Stücke ist bei der Aufführung selbst durch den Fleiß, welchen die Schauspieler sowohl als die Regie mit Inbegriff der Theatermalerei und des Costüms darauf wendeten, volles Recht widerfahren. Wäre vielleicht auch durch die unverhältnißmäßige Verlängerung des mehr figurirenden Tanzes in der Dorfscene, durch den Mangel an lauter Beweglichkeit und was wir geregelten Aufruhr nennen möchten, auf und neben den Kirchenstufen in der Schlußscene, durch die rothen Kokarden beim Krönungszuge und durch andre Kleinigkeiten der Art, die bei einer, ein ganzes Volk von Statisten fodernden, ersten Aufführung kaum zu vermeiden sind, dem Gott Momus hie und da noch ein kleines Sühnopfer dargebracht worden, so waren doch im Ganzen Scenerei, (zum Portal von Notre Dame war ein neuer Einsatz gemalt, und die hinter Flor gestellten Tableaux entsprachen ganz dem phantastischen Zweck) Gruppirungen, Costüms, mit Kennerschaft ausgeführt und trugen das Ihrige zur Annehmlichkeit des Stücks bei.
(Der Beschluß folgt.)
Apparat
Zusammenfassung
Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Heinrich der Vierte von Frankreich“ von Eduard Gehe (Teil 1 von 2), der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Albrecht, Christoph; Fukerider, Andreas
Überlieferung
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Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 2, Nr. 143 (17. Juni 1818), Bl. 2v