Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 1. Dezember 1817
Am 1. December. Selbstbeherrschung, Schauspiel in 5 Aufzügen von Iffland.
Man hatte seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten her den Wunsch verlautbart, daß doch die guten alten Ifflandischen Kernstücke nicht ganz in Vergessenheit kommen möchten. Denn wenn nicht etwa einmal die Kunst auf Reisen die bekannten Paradepferde in den Jägern, im Spieler und in den Hagestolzen herumtummelt und uns damit nur zu oft langweilt, so ist von diesen Familiengemälden und Predigten auf der Bühne fast alles verschollen. Etwas was Schiller, noch etwas was A. W. Schlegel in Beziehung auf diese bequeme und sentimentale Schlafrockmanier,
und was recht populär, häuslich und bürgerlich ist,gesagt haben, hat über die ganze Gattung gleichsam den Stab gebrochen. Das ist nicht Recht. Man soll nirgends das Kind mit dem Bade ausschütten und Ifflands Kunst durch die größten Alltäglichkeiten in geschickter Verflechtung doch das Interesse der Zuhörer zu erhalten, ist noch immer etwas werth. Wir freuten uns also, uns einmal 21 Jahre jünger zu denken und eines der gehaltreichern Stücke, die Selbstbeherrschung, über unsre Bühne schreiten zu sehen. Wenn ihm nur zuletzt der Athem nicht fast ganz ausgegangen und besonders der fünfte Akt, durch seine schleppende Weitschweifigkeit, aller Gunst, in der sich früher wohlbekannte Situationen aufs neue zu setzen gewußt hatten, verlustigt geworden wäre! Und hätten unsre Schauspieler auch noch mehr Rundung und Vollendung hineingelegt, es ist in dieser Breite und Flachheit nicht mehr auszuhalten. Es sind gewiß außer den oben genannten drei Stücken im Ifflandischen Theatervermächtniß noch sechs Stücke (Verbrechen aus Ehrsucht nebst dessen Fortsetzung , Elise Valberg, der Frauenstand, alte und neue Zeit, die Reise in die Stadt), welche durch einen geschickten Verjüngungsprozeß, der aber nicht bloß chirurgisch, sondern auch restaurirend seyn müßte, ein neuer sehr erfreulicher Erwerb für unsre Bühnen werden könnten, wobei sich von selbst versteht, daß verständige Theaterdirectionen solch Umarbeitungen gern honoriren und bei der Aufführung ganz neu besetzen würden.
Was diese Selbstbeherrschung anlangt, so hat sie, wie in frühern Theaterberichten zur Zeit ihrer Erscheinung (1796) zur Genüge bemerkt worden ist, den Hauptfehler, daß man in der alten Baronin, die sich in den jungen Secretär verliebt hat, gar nicht recht klug wird und ihr das Opfer, was sie durch ihre Entsagung bringt, gar nicht als Selbstbeherrschung anrechnen mag. Iffland arbeitete zu schnell und zu sehr auf augenblickliche Moralitäten, um sich der innern Motiven klar bewußt zu werden. Es hat ihm selbst dunkel vorgeschwebt, daß der Secretär Wilnang auch die Baronin lieben müsse, wie der 14te Auftritt im 5ten Akte deutlich genug verräth. Aber es fehlte dem Dichter an Kraft, diese Situation, durch welche alle Selbstbeherrschung auf zwei Seiten begründet worden wäre, geschickt einzuleiten und durchzuführen. Und so treibt sich denn das Ganze in endlosen Halbheiten fort, wobei der Hauptknoten, die verschwiegene Wohlthat an ein fremdes Mädchen, kaum durch einige hin¦geworfene Worte berührt wird. Daß alles bedürfte große Nachhülfe, wenn das Stück noch einiges Glück bei uns machen sollte.
Unsere Schauspieler ließen es im Ganzen an gutem Willen nicht fehlen, diesem alten Schwächling wieder auf die Füße zu helfen. Mad. Hartwig als Baronin behauptete ihren alten Ruhm in dieser Rolle, schien aber selbst einigemal, wo sie weniger sicher spielte, das Mangelhafte desselben zu fühlen. Sie wußte den Ausdruck ihrer Empfindungen gut abzustufen. Ihr Betroffenseyn, als sie vom Secretär so unerwartet als Mutter begrüßt wird, ist nur ein Schatten von dem Ergriffenseyn, als sie von Luisen seine Liebe hört. Hier hätte aber der Dichter selbst einen größern Seelenkampf andeuten sollen. Die denkende Schauspielerin kann aber den Dichter suppliren. Sehr treffend und gut gehalten war ihr Spiel, als sie ihrem erbärmlichen Bruder zweimal die Fassungskraft ihres edlen Benehmens abspricht. Was nun diese erbärmliche Exellenz, diesen abgesetzen Oberhofmeister Werthal selbst anbetrifft, so kann man geradezu behaupten, daß ein solcher Gauch jetzt eben so wenig gefunden wird, als ein solcher Haushofmeister, wie der Constant ist. Beides sind veraltete Carricaturen. Da giebt es nun unsers Dafürhaltens nur einen Weg für ächt humoristische Schauspieler, die solche Werthals und Constants noch jetzt zu spielen haben, Verfeinerung beim Hofmann, Milderung mit reinem Humor beim Constant Letzteren sah der Schreiber dieses Aufsatzes bald nach der Erscheinung des Stücks in Berlin selbst durch Iffland mit der ergötzlichsten Laune vortragen. Ein alter Liebling unsrer Bühne, Herr Bösenberg, nahm es nicht so genau damit, verfehlte aber doch durch stärkeres Auftragen und derbere Formen den Zweck der Belustigung nicht. In dem Oberhofmeister von Werthal entwickelte Herr Burmeister sein schönes Talent für komische und ernste Alte mit allgemeinen Beifall. Ob solche Figuren jetzt noch im Leben erscheinen, ist seine Sorge nicht. Kurz er spielte ganz in der Intention des Dichters. In dieser mag auch der dargebotene Handkuß an den Secretär und das Lorgniren des Beutels, aus welchem Constant das Geld nimmt, und so mancher allzuspreizende Pfauenstolz seine Rechtfertigung finden. Vielleicht lorgnirte er wirklich etwas zu viel. Aber in vielen glücklich angebrachten Lazzi war sein sinnreiches Studium unverkennbar. Wie küßte er die Schwester beim ewigen Abschied! Herr Kanow spielte den Secretär sehr gemüthlich, vielleicht zu weich. Die Stelle, wo er den Ring empfängt, gelang vorzüglich. Auch die untergeordneten Rollen wurden gut gegeben. Wie zart eröffnete Mad. Schirmer als Luise der Baronin ihre Verbindung mit dem Secretär und wie gut wußte sie sich in den Schranken einer bloßen Gesellschafterin bei den plumpen Zudringlichkeiten Constants zu halten. Stärkere Zurückweisung wäre vornehmer, aber nicht auf dieser Linie gewesen. Die rohe Unverschämtheit und Brutalität des Assessors steigerte Herr Zwick mit feinem Studium von Scene zu Scene. – Zum Schluß nur noch die Frage: War es wirklich bloß Schuld der wassersüchtigen (leicht abzuzapfenden) Sprachseligkeit in so vielen Scenen, daß das Stück um eine volle halbe Stunde zu lange dauerte? –
Apparat
Zusammenfassung
Aufführungsbericht Dresden: „Selbstbeherrschung“ von August Wilhelm Iffland am 1. Dezember 1817
Entstehung
vor 22. Dezember 1817
Überlieferung
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Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 305 (22. Dezember 1817), Bl. 2v