Karl von Decker: Der Freischütz in Paris (Teil 1), 1826

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Der Freischütz in Paris.

Dramatische Analyse, von Adalbert vom Thale.

Schon am zweiten Tage meiner Ankunft in Paris erlebte ich die Freude, daß mein lieber Freischütz im Théatre Odéon gegeben ward, und nichts in der Welt hätte mich abhalten können, der Vorstellung beizuwohnen; denn ich will es ohne Hehl von vorne herein gestehen, daß ich diese Oper sehr liebe, daß ich sie in Berlin einige und zwanzig Male, ferner in Leipzig, Erfurt, sogar in Naumburg an der Saale, kurz überall gesehen habe, wo sich irgend Gelegenheit mir darbot, der unzähligen Male ganz zu geschweigen, daß der Vortrag einzelner Musikstücke am Klavier von schönen und unschönen Lippen mich entzückte.

Um einen guten Platz zu bekommen, ging ich recht früh hinein, und hatte eine volle halbe Stunde lang Zeit, mich im Hause unzusehen.

Das Théatre Odéon, oder de l’Odéon eigentlich, gehört schon zu den größeren; es faßt 1628 Plätze. Ein Platz hinter dem Orchester, im ersten Balkon, den ersten Gitterlogen und Stalles *) (wie sie in der Originalsprache heißen) kostet 6 Francs, oder 1 Rthlr. 16 Gr. alt Courant; im zweiten Rang und seinen Gitterlogen 5 Francs; im Parterre 1 ½ Francs oder 11 Gr. u. s. w., was wenigstens beweiset, daß wenn gewisse Leute es für unschicklich halten, in ein Berliner Parquet zu gehen, ihre bizarre Ansicht in Paris haltbarer seyn würde, als in dem freisinnigen Berlin, wo man längst dahin übereingekommen ist, daß der Anstand mit Geld nicht aufzuwiegen ist, weil Leute zwar oft das meiste Geld aber deshalb nicht immer den meisten Anstand haben. Doch in Paris wird es Niemanden übel genommen, selbst in das Parterre zu gehen, und ich kann wohl sagen, daß ich mich dort in recht guter Gesellschaft befunden habe, die sogenannten Claqueurs (bezahlte Klatscher) etwa abgerechnet.

Der Salon ist nicht geschmackvoll dekorirt, mit Säulen und Goldwerk überladen, vier Sta|tüen halten Wache bei der königlichen Loge – die sich im Proscenium befindet, und mit einem Vorhang verhängt ist, wenn niemand vom Hofe anwesend ist. – Der Platfond ist sehr schön gemalt, er bildet einen vollständigen Kreis, in dessen Mitte der Kronleuchter (mit Gasbeleuchtung, das versteht sich!) herabhängt. Der Bühnenvorhang ist geschmacklos gemalt, und stellt eine große Treppe vor, die mit der auf dem Gensd’armenmarkte mehr als eine Aehnlichkeit hat.

So wie bei uns Eis und Wochentag-Bonbons im Salon herumpräsentirt werden, so bieten hier Garcons Opernguker schreiend zum Verkauf aus; im Ganzen keine üble Mode, wenigstens kann man so leicht nicht angeführt werden, weil man dieses wichtige Instrument an Ort und Stelle zu prüfen Gelegenheit hat.

Recht widrig ist aber das Ausrufen der Textbücher, besonders wenn es mit so heiserer Stimme geschieht, wie sie dem Knaben angehörte, dem ich das Freischützenbuch abkaufte, und der mich unwillkührlich an die Stimme des Genius erinnerte, der in „Doktor Faust’s Mantel* am Drath herabschwebt und die schöne Höllenbraut in die Versenkung hinabkreischt. Sowohl vor Anfang des Stücks als in jedem Zwischenakt wiederholten die Knaben ihr monotones Gekräh: Robins-des-bois-pour-un-franc-cinquante-centimes, und nur dann und wann zur Abwechslung: pour-trente-sols.

Ich hatte anfänglich mir vorgenommen, das Buch nicht eher anzusehen, bis der Vorhang aufgegangen seyn würde, und dann Scene für Scene zu verfolgen, aber die Neugierde siegte. Heiliger Apoll mit allen neun Musen! Was erblickten meine Augen! Sind die französischen Uebersetzer Tollhäusler, daß sie aus der Kindschen Dichtung eine kindische machen konnten? Französische Vaudevilles angelysirt zu sehen, ist ein Berliner von der transspreanischen Republik her gewohnt*; aber daß man in Paris den Freischütz anglisiren konnte, hätte kein Berliner sich träumen lassen, und ein Dresdner müßte ohne Gnade Krämpfe bekommen, wenn er es hörte. Doch ich will ordnungsmäßig erzählen, wie und auf welche Art die Herren Castil-Blaze und T. Tauvage, unsern guten Freischütz be- und verschnitten, und ihm einen ächt englischen Spenzer angezogen haben.

Der Titel ist in Robin des bois, ou les trois balles, das Stück selbst in eine Opéra-féerie verwandelt, der Samiel zur Hauptperson gemacht, und von den sieben Freikugeln sind sans rime, sans saison vier gestrichen worden; im Ganzen haben die französischen Bearbeiter es umgekehrt gemacht wie die unsrigen mit ihren Vaudevilles, d. h. sie haben das Produkt eingekocht, statt daß jene in der Regel einen verlängernden Aufguß von lauwarmen Spreewasser darüber zu gießen pflegt. Der Böhmische Fürst Ottokar ist ohne weiteres gestrichen, der ehrliche Cuno in den Förster Reynold des Lords Wentworth, Agathe in Anna, Annchen aber in Nancy umgewandelt, und diese obenein zu Kilians Geliebten (der hier Dick heißt), gemacht worden; ein förmlicher Gewaltschnitt mitten durch die romantische Poesie. Caspar heißt Richard und Max hat den Namen Tony eingetauscht. Der Eremit bleibt weg, dafür sind die Dämonen eingeschaltet, und ein Intendant als Haushofmeister angeflickt worden, um im dritten Akt den Ehekontrakt auszufertigen.

An meinem Kopfschütteln und einigen verhaltenen Exklamationen mochten meine Nachbarn merken, daß ich den Freischützen von länger her kannte; sie waren hocherfreut, endlich Jemand zu finden, der ihnen über die deutsche Aufführung einige Auskunft geben konnte, zogen aber ein gewaltig finsteres Gesicht, als mir im gerechten Zorn die freilich etwas unvorsichtige Aeußerung entfuhr: []On a bien maltraité notre pauvre Freischütz!“ Doch das Zeichen zum Anfang ward gegeben, von allen Seiten Ruhe geboten, und das große ganz volle Haus – es war die 38ste Vorstellung in wenigen Monaten – glich einer Kirche.

Mit einer Präzision, die man an einem französischen Orchester nicht gewohnt ist, wurde die Ouvertüre exekutirt. Sie wurde unverändert wiedergegeben, und die herrliche Musik – denn diese können sie ja nicht anglisiren – feierte ihren höchsten Triumph. Rauschender Beifall, ohne Mitwirkung der Claqueurs!

Erster Akt; erste Scene (im Kind’schen Buche der dritte Auftritt): Im Ganzen treu, aber das Kostüm heillos verunstaltet, die Bühne sah aus, als ob aus einem halben Dutzend Spiele Karten alle 72 Bilder lebendig geworden wären. Statt der Sternscheibe wird eine Taube heruntergeschossen, das mag hingehen; wer aber schießt sie herunter? Samiel thut’s, und – um den Unsinn zu vollenden – er wirft eine Börse hin, die Kilian-Dick auffängt.

(Die Fortsetzung folgt.)

[Original Footnotes]

  • *) Haben die Franzosen diesen Namen von dem deutschen Worte „Stall“ entlehnt? Es wäre nicht unpassend.
    D. V.

Editorial

Creation

Responsibilities

Übertragung
Frank Ziegler
Korrektur
Eveline Bartlitz

Tradition

  • Text Source: Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit, Jg. 1, Nr. 12 (28. Januar 1826), pp. 45–46

Text Constitution

  • “Niemanden”sic!
  • “pflegt”sic!

Commentary

  • “… „ Doktor Faust’s Mantel “”Doktor Faust’s Mantel, Zauberspiel mit Gesang in zwei Akten von Adolf Bäuerle, Musik von Wenzel Müller, Berliner Erstaufführung im Königsstädtischen Theater am 26. April 1825; vgl. AmZ, Jg. 27, Nr. 19 (11. Mai 1825), Sp. 312.
  • “… der transspreanischen Republik her gewohnt”Gemeint sind Louis Angelys Einrichtungen französischer Vaudevilles, die nicht im Hoftheater, sondern jenseits der Spree, im Königsstädtischen Theater, aufgeführt wurden.
  • T. Tauvagerecte “Thomas Sauvage”.
  • saisonrecte “raison”.

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