Aufführungsbesprechung Prag, Ständetheater: darunter “Der Essighändler” von Wolfgang Adolph Gerle, Juni 1813
Prag. – Den 3. July* zum ersten Mahl: Der Essighändler, Lustspiel, nach dem Französischen neu bearbeitet von Gerle. Diese neue Übersetzung hat vor der ältern bloß einen neuen Charakter voraus; nähmlich der Herr Jüllefort des ältern Stückes, der freylich eine gar traurige Figur spielte, ist in einen bizarren Anglomanen verwandelt, welcher Charakter zwar um acht Jahre zu spät auf die Bühne kommt, da die Originale desselben seit der Sperre des Continents* immer seltener werden, wodurch die Copie an Interesse verliert; doch sollte es eben nicht schwer werden, noch immer solche God dams aufzufinden, und es scheint fast, als hätte Herr G. diesen nach der Natur gezeichnet. Herr Polawsky spielte ihn vortrefflich. Außerordentlich wahr gab Herr Liebich den alten Dominik, und seiner Kunst verdankt wahrscheinlich dieß Stück zum größten Theil den rauschenden Beyfall, der ihm zu Theil wurde. Auch Mad. Brunetti (Mlle. Delomer) und Herr Löwe (Robert) führten ihre Rollen recht brav durch. Herrn Brückel als Delomer hätten wir in einem passenderen Anzug zu sehen gewünscht, und bitten ihn herzlich, in einer künftigen Production sich nicht gar so familiär mit dem Essighändler zu machen, indem er dadurch die Pointe des Stücks abstumpft.
Den 6. zum ersten Mahl: Die heimlich Vermählten, oder: Er ist sein eigener Richter, Lustspiel in 1 A. a. d. Franz. nach Barre von Vogel (noch Manuscript). Die Intrigue dieses kleinen Stückes, das, ohne gerade große Pretension machen zu können, sich sehr gut ansieht, ist folgende: Herr Walter, Gutsbesitzer und eine Art von Intendanten seines Gönners, des Geheime[n]raths von Hochbein, ist in Begriff, seine Tochter Julie an einen seiner Jugendfreunde zu verheirathen. Mittlerweile aber hat der Sohn des Herrn von Hochbein sich in Julien verliebt, heimlich die Universität verlassen, und sich unter falschem Nahmen als Porträtmahler bey Walter eingeschlichen. Er gewinnt das Herz des Mädchens, und vermählt sich heimlich mit ihr. Das Stück beginnt mit den Berathschlagungen des Ehepaars, wie ihr dummer Streich auszugleichen sey. Sie beschließen endlich, Herrn Ernst, einen Miethsmann Walters, den er sehr schätzt, zu ihrem Vertrauten zu machen. Zu ihrem Glück ist dieß der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der hier incognito lebt. Nachdem ihn Gustav gewonnen, und ihm seinen Stand, aber nicht seinen Nahmen entdeckt hat, kommt die Nachricht, daß Herr v. Hochbein sogleich ankommen werde. Walter geräth in die größte Verlegenheit, da Herr Ernst die Zimmer inne hat, welche Herr v. Hochbein gewöhnlich bewohnt; Ernst bemerkt die Ängstlichkeit seines Wirthes, und ist sogleich bereit, einstweilen seine Zimmer mit ihm zu theilen. Der Geheimerath kommt, und wie er die Artigkeit des Herrn Ernst hört, läßt er ihn rufen, um ihm recht herablassend zu danken. Er befrägt ihn über Verschiedenes aus der Hauptstadt, und wird nicht wenig stutzig, da jener die ersten des Hofes genau kennt. Das Ende einer recht artigen Conversation ist die Entdeckung seines Standes und des Geheimenraths Bitte um Protection; der Minister versichert ihn dieser, ersucht ihn aber zugleich, indem er ihm die Geschichte Juliens und des Sohnes von einem seiner Amtscollegen erzählt, diese Sache zu vermitteln, daß Waltern kein Leid daraus erwüchse. Der Geheimerath rühmt sich seiner Kinderzucht, bey der er nichts Ähnliches zu befürchten habe, und entfernt sich, um sogleich an den Alten zu schreiben. Mittlerweile hat auch Walter die heimliche Vermählung seiner Tochter erfahren, und ist darüber außer sich. Der Minister sucht ihn zu beruhigen, und bald kommt Herr v. Hochbein zurück, der einen bündigen Brief an seinen Collegen geschrieben, worin er jedes Vorurtheil bekämpft, das gegen diese Verbindung streitet. Nachdem er dem Minister den Brief vorgelesen, bittet er um die Adresse. Der Minister, der den Nahmen des jungen Menschen noch immer nicht weiß, verweiset ihn an Gustav, ¦ der mit seiner Frau ängstlich im Hintergrunde steht. Die beyden jungen Leute stürzen zu den Füßen des alten Hochbeins, der anfangs vor Überraschung nichts zu sagen weiß; als er sich erhohlt, macht er verschiedene Einwendungen, die aber der Minister stets mit Stellen aus seinem eigenen Briefe widerlegt, bis er endlich den Kindern verzeiht. Der Dialog ist leicht und fließend, und da die meisten Rollen sehr brav gegeben wurden, so erhielt das Stück zwar nicht rauschenden, aber desto gerechtern Beyfall.
Von ältern Stücken, die zum Theil neu einstudiert oder besetzt wurden, war Göthe’s Clavigo die vorzüglichste Produktion. Mad. Liebich als Sophie bewies, daß eine denkende Künstlerinn auch in einer kleinen Rolle sich auszeichnen kann. Mad. Brunetti, welche wir meist nur im Lustspiel zu sehen gewohnt sind, spielte die Marie recht brav. Herr Bayer hatte seinen Beaumarchais ganz inne, und nuancirte vorzüglich das Gefühl der Rache schön und meisterlich. Die Gewandtheit, mit der er die Klippe umging, an der die Schauspieler in dieser Rolle gewöhnlich scheitern, indem sie entweder zu wenig oder zu viel thun, bewies, wie sehr er in den Geist des Dichters eingegangen war, der gerade in diesen Momenten seine große Kenntniß des menschlichen Herzens so ganz entfaltet hat. Herr Polawsky gab den Clavigo brav, nur mäßigte er sich im letzten Act zu wenig. Wir haben bey der Rückkehr dieses braven Künstlers mit Vergnügen bemerkt, daß er während seines Aufenthalts in Wien sehr an Kraft der Stimme und Bewegungen gewonnen habe; leider aber machen wir immer mehr die Erfahrung, daß er in dieser Sache dem Guten zu viel thut, und in Ton und Geberden sich immer mehr der Vehemenz eines französischen Tragikers nähert. Beweis davon gab er uns seit Kurzem in mehreren Rollen, vorzüglich aber als St. Alme in Kotzebue’s Taubstummen. Herr Wilhelmi nahm seinen Carlos zu jung und zu sehr in seiner gewöhnlichen Art, als daß er dem Götheschen Bilde hätte nahe kommen können. Herr Brückel als Guilbert war wieder so sonderbar wie gewöhnlich costümirt; seine schwarze Perücke und sein altes Kleid stach von seinen Umgebungen gewaltig ab. Die Musik beym Leichenzuge hätte etwas hörbarer seyn können; überhaupt schien sich der 5. Act, so kurz er ist, sehr zu dehnen, wogegen der Schluß des 4. Acts mit ergreifender Wahrheit gegeben wurde, und die höchste Wirkung hervorbrachte.
Editorial
Creation
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Responsibilities
- Übertragung
- Ziegler, Frank
Tradition
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Text Source: Der Sammler. Ein Unterhaltungsblatt, Jg. 5, Nr. 119 (27. Juli 1813), pp. 476
Commentary
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“… . – Den 3. July”Die Aufführung fand am 3. Juni 1813 statt; vgl. Webers Tagebucheintrag sowie seinen Brief an I. F. von Mosel vom selben Tag.