Korrespondenz-Nachrichten aus Mannheim, September 1810 (Teil 2 von 3)
Mannheim im September.
Fortsetzung der Schreibtafel Nro. 12.
Sänger und Orchester verdienen über die Aufführung das größte Lob, besonders Mad. Gervais* und Hr. Berger*. Letzterer wurde nach dem Schlusse einstimmig vorgerufen, – es war seine letzte Rolle, er ist nun beim königl. Hoftheater in Stuttgart engagirt; er war sehr gerührt, ohne die gewöhnliche Formel von Gerührtseyn auszusprechen. Der Abschied von hier scheint ihm sehr schmerzhaft zu seyn, und auch von Seiten des Publikums scheint man seinen Verlust nunmehr allgemein zu bedauern; ein Verlust, welcher nicht eingetreten seyn würde, hätte der bessere, nicht kabalirende Theil des Publikums seine Stimme früher laut werden lassen, um ihn so sehr zu ermuntern, als seine Gegenparthei* ihn zu mißhandeln thätig war.
Herr Gerl* als Röschens Vater singt seine Parthie sehr brav, und spielt die Rolle mit Wahrheit und der ihm eigenthümlichen heitern Gutmüthigkeit.
Im Ganzen ist es gewiß ein Verlust für die Kunst, daß ein Mann, welcher, wie Herr Ritter, bei so wenigem Aufwande so viel Genie zu beurkunden weiß, so wenig schreibt, und daß das, was er geschrieben hat, so wenig verbreitet ist. Sein Zitterschläger soll übrigens in kurzem auf dem königl. Hoftheater in Ludwigsburg aufgeführt* werden.
Noch muß ich Ihnen über d’Alayrac’s Oper: Leon, oder: Das Schloß von Montenèro*, einiges sagen. Die Ouvertüre ist eben nicht besonders bedeutend, sie beginnt in C moll, wie gewöhnlich Largo, und geht in ein Allegro G moll 3/4 über, welches sehr an den Styl der Haydnschen Menuette erinnert.
Die Introduktion bildet ein sehr lieblicher Chor der Landleute*, welche den Frieden feiern, den ihr Herr, der Ritter Romuald, so eben mit dem benachbarten Raubritter Leon von Montenèro geschlossen haben soll; der Preis des Friedens soll die Hand Laura’s, der Tochter Romualds seyn. Des Fräuleins Duenna unterbricht die Freude des Volkes durch Schilderung der Raubsucht und Grausamkeit des Raubritters, welchem ihr armes Fräulein geopfert werden soll; ihre Erzählung bildet eine Romanze*, weniger im französischen als in einem wirklich originalen Style, mit untermischtem Chore des Landvolkes.
Alle bedauern Laura, welche bald darauf erscheint, ihr Schicksal beklagt, aber um die Ruhe ihres Vaters zu erkaufen, Leons Gattin zu werden, und ihrem Geliebten Ritter Ludwig zu entsagen sich entschließt (ziemlich unbedeutende Arie*). Ludwig erscheint endlich selbst, bestürmt Laura mit Vorwürfen, welchen diese nur Klagen über ihr unglückliches Schicksal entgegensetzt: dies führt ein äusserst rührendes Rezitativ und Duett* herbei.
„O Schicksal, ich klage vergebens!“worin die lebendigste Sprache des Schmerzens herrscht. Sehr glücklich hat der Komponist die beiden Liebenden einander die Worte des Textes, von dem einen immer um einen halben Takt verspätet, nachsprechen lassen, ohne dadurch irgend eine wirkliche kontrapunktische Inzitation zu beabsichtigen; diese kunstlose Behandlung spricht hier ungemein richtig die Empfindung der beiden Liebenden in dieser letzten Abschiedsstunde aus.
Doch unerwartet kündigt Laura’s Vater an, die Friedensunterhandlungen haben sich zerschlagen; er hat sein Kind dem Räuber rund abgeschlagen, will Laura jetzt gleich mit Ludwig verloben, und dann mit diesem verbündet, von neuem den Raubritter bekämpfen. Er geht, Anstalten zur Verlobung zu machen, indeß Ludwig sein Entzücken in einer lebhaften Arie* ausdrückt, an welche sich ein feuriger kräftiger Chor* anschließt:
„feiert hoch“ec.kunstlos, oder besser ohne Künsteleien, aber von der erhebendsten Wirkung, recht der Ausbruch lauter Freude mit Solo’s der Hauptpersonen untermischt, welche aber immer wieder der Chor mit seinem jubelnden
„feiert hoch“unterbricht. Der Tanz soll beginnen – plötzlich bemerkt man einige verkappte Männer, welche durch das Gebüsche schleichen – schon früher einmal hatte man sie bemerkt, und nichts Gutes geahnt; – der Gesang verstummt, sprechend des Gesangs vergessend theilen sich die fröhlichen ihren Verdacht, ihre Besorgnisse mit, indeß die Saiten-Instrumente allein eine einförmige die Spannung erhaltende und mit jedem Augenblicke erhöhende Figur* unausgesetzt festhalten: – doch die Männer verschwinden, man beruhigt sich, denkt es werde ja doch nichts auf sich haben, Ludwig geht mit gutem Beispiele voran, und stimmt unbesorgt sein voriges Solo*
„Nur die Freud umschweb uns heute“in der heitern Tonart A dur wieder an; das Landvolk beginnt einen Tanz* zu den hupfenden Rhythmen eines Piccoloflötchens – Laura mit ihrer Duenna und Ludwig verlassen auf einen Augenblick die Scene, und – bald hört man Laura im Hintergrunde um Hülfe schreien. Das Volk zittert von schrecklichen Ahnungen, indeß die Tänzer nichts merken, und lustig ihren Tanz fortsetzen; die herben Accente des bangen Chors begleiten die springenden Triolen des Flötchens. Ein herber wirklich schaudervoller Kontrast. Ein Flintenschuß kündigt endlich allen un-zweideutig genug an, daß hier ein Unglück vorgehe, und wirklich wird die Nachricht gebracht: – Leons verkappte Diener haben den Ritter Ludwig meuchlings niedergeworfen, geschlagen, gefangen genommen, und das Fräulein gewaltsam entführt. – Allgemeine Bestürzung, während welcher der Vater, von allem was vorgegangen ist, nichts ahnend, mit dem bekannten
„Nur die Freud umschweb uns heute“*zurückkehrt, um sich unter die Fröhlichen zu mischen – er erfährt das Unglück, man sieht von ferne wie Laura in Leon’s Burg geschleppt wird – alles ruft Rache, man bewaffnet sich, und schwört die Unglücklichen zu befreien, womit der erste Akt schließt. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, welchen Eindruck diese Reihe von Situationen auf mich machte, und wie sehr ich bedauerte, daß der Aufruf zu den Waffen, welcher den Schluß Chor* bildet, gegen das ganze übrige Finale an Energie und Effekt zurücksteht.
Beim Anfange des zweiten Aufzuges ist auf Montenero zu Laura’s Empfange schon der Kerker (warum dieser?) bereitet; man erblickt in einem Seitengange, welcher von dem Gefängnisse durch ein eisernes Gitter getrennt ist, eine Schildwache. Laura wird mit ihrer Duenna gebracht; der Tirann erscheint, erklärt ihr, daß sie ihn lieben müsse, sie bleibt standhaft, und schwört Hungers zu sterben, um sich seiner Gewalt zu entziehen; die Scene* wurde von Mlle. Frank* mit Wahrheit und überraschender Kraft dargestellt. – Doch Leo achtet nicht ihrer Verzweiflung, und geht ohne weiters, um Anstalten zu seiner Verbindung mit ihr zu machen. Die Wache hinterm Gitter wird abgelös’t, und zwar durch den gefangenen Ludwig, welchen der Burgvogt (ein gutdenkender Mann und vormaliger Liebhaber der Duenna) also verkappt hat, um ihn und das Fräulein zu retten. Die Liebenden erkennen sich, wagen es aber nicht, sich einander zu nähern, aus Furcht entdeckt zu werden. – Bald kehrt Leon zurück, will sie mit Gewalt zum Altare schleppen; sie ergreift ein Messer, droht, sich auf der Stelle zu ermorden; doch nichts rührt den Tirannen, er ist eben im Begriffe, sein gewaltsames Vorhaben durchzusetzen, als eine Gespensterstimme (der Burgvogt in einem ihm allein bekannten Winkel des Gewölbes versteckt) ihn in Schrecken setzt. Mit Leon’s unmächtiger Wuth und fruchtlosem Durchsuchen aller Winkel, endet der zweite Akt.
Die Musik dieses Theils, so wie des folgenden, hat weit weniger ausgezeichnete Stücke als der erste, und eben dieß gilt vom dritten Akt, in welchem das Sujet immer matter und planloser wird, und wo endlich, nachdem Laura’s Vater, um seine Kinder zu befreien, vergebens einen Sturm auf das Raubschloß gewagt hat, und dabei selbst gefangen worden ist, Ludwig durch des Burgvogts Hülfe den Tirannen (leider aber meuchlings, durch einen Pistolenschuß von hinten) ermordet, und so die Liebenden wieder vereinigt werden.
Auszeichnung verdient im zweiten Akte das Terzett*, wo Laura ihren Geliebten in der Schildwache erkennt, aber sich ihm nicht nähern darf. Ist es nun gleich unter solchen Umständen ein wenig unsinnig, daß die Duenna sich in die Mitte zwischen beiden stellt, und die leisen Liebesseufzer, die eines derselben ihr zuflüstert, dem andern eben so leise hinterbringt, et vice versa, (ein Betragen, was, wenn sie belauscht würden, ja nur doppelt verdächtig seyn würde) so ist doch die Musik sprechend und ausdrucksvoll gehalten.
(Die Fortsetzung folgt)
Editorial
General Remark
vgl. Generalvermerk Korrespondenz-Nachrichten aus Mannheim, September 1810 (Teil 1 von 3)
Creation
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Tradition
Commentary
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“Hr. Berger”Ludwig Berger trat als Raimund zum letzten Mal in Mannheim auf, bereits am 9. September 1810 gab er sein Debüt in Stuttgart.
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“seine Gegenparthei”Die deutliche Bevorzugung Bergers in den Besprechungen der harmonischen Brüder war als bewußte Parteinahme für diesen offensichtlich umstrittenen Künstler gedacht, über den bereits im Jahr zuvor ein Korrespondent im Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 3, Nr. 169 (17. Juli 1809), S. 676, anläßlich eines Stuttgarter Gastspiels geschrieben hatte: Ref. hat seit einiger Zeit so viele widersprechende Urtheile über diesen Künstler gelesen. Vgl. hierzu auch Kom. 1810-V-01.
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“Chor der Landleute”Introduktion (Nr. 1) „Wohl uns!“ (Incipits nach dem Textbuch im Reiß-Museum Mannheim, M 781).
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“Romanze”Romanze der Veneranda (Nr. 2) „In jenem Schloß“.
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“unbedeutende Arie”Arie der Laura (Nr. 4) „Theurer! du dem voll Liebe und Treue“.
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“Rezitativ und Duett”Duett Laura und Ludwig (Nr. 5).
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“lebhaften Arie”Arie des Ludwig (Nr. 6) „Sie ist mein, die Hochgeliebte“.
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“kräftiger Chor”Finale Nr. 7.
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“Saiten-Instrumente allein eine … Augenblicke erhöhende Figur”Vgl. T. 70–71.
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“Solo”T. 101ff.
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“Tanz”T. 108ff.
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“Nur die Freud umschweb uns heute”T. 108ff.
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“Schluß Chor”T. 241ff. „Nehmet Waffen“.
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“die Scene”Szene II/4.
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“Terzett”Terzett Laura, Veneranda und Ludwig (Nr. 4) „Oh Erscheinung voll Entzücken“.