Städtecharakteristik: Baden-Baden
Ueber Baaden-Baaden*.
Ich stieg aus dem Wagen, als ein Freund von mir eben in den seinen steigen wollte. Wohin? rief ich ihm zu.Δ – Nach Baaden, war die Antwort, und fort gings. Ich besuche einen alten Bekannten, und finde ihn beymΔ Einpacken. Sie verreisen? – Ja. – Wohin? – Nach Baaden. – Auf der Straße eilt mir höchst geschäftig ein anderer in die Arme und ruft: ach! daß Sie jetzt ankommen, da ich aufs schnellste fort muß, um noch Platz zu erhaschenΔ; Sie können nicht glauben, wie voll es ist, und wie dringend man mir schreibt,Δ keine Zeit zu verlieren. – Ja, wo denn, von was sprechen Sie denn? – Mein Gott wie kannΔ man von etwas andermΔ sprechen, als von Baaden; leben Sie wohl, ich eile. – Fort war er.
Wenn denn die ganze Welt nach Baaden geht (dachte ich), so kannst du ja auch deinen Wanderstab dahin richten. Das schöne Geselligkeitsleben eines besuchten Bades, so manche froh durchlebte Stunde schwebte mir vor, und voll der Hoffnung, diesesΔ alles in Baaden in hohem Grade wieder erneut zu genießen, überließ ich mich den sorgenden Händen der Postillone, die mich auch glücklich Δ am Badischen Hofe absetzten*.
Menschen fand ich genug, so viele, daß nirgends mehr unterzukommen war, daß manche Nacht funfzehen bis zwanzig Personen sich mit einem einfachen Strohlager begnügen mußten, bis andere Abgehende Platz machten, oder ein gefälliger Freund sein Lager mit ihnen theilte. ¦ Doch erhöhen solche kleine Ungemächlichkeiten den Werth eines so errungenen Genusses, und doppelt hofft man sich dann im fröhlichen Gewirre des andern Tages zu entschädigen. Aber leider fand ich darin meine Erwartung nicht befriedigt.Δ Das gesellige offene Wesen, das jeden Tischnachbar zum alten Bekannten stempelt, und so reizend über die gewöhnlichen steifen Verhältnisse des Lebens erhebt, habe ich sehr vermißt.
Die Anzahl der Badegäste ist so groß, daß sie sich in kleinere PartienΔ theilen muß, die nun wieder eine Art von geschlossenem ZirkelΔ bilden, zwischen denen sich der Neuangekommene ganz allein sieht, und welchen er sichΔ nur nach längerer Zeit anschließen kann. Jedermann habe ich darüber klagen hören, aber eben so wenig habe ich Jemand bemerkt, der etwas dagegen gethan hätte.
Das Hauptübel besteht nun wol darin, daß kein eigentlicher Vereinigungspunkt der Gesellschaft vorhanden ist, in welcher HinsichtΔ alle Bäder, die eine Brunnenkur nothwendig machen, den Vorzug haben, die Gäste unwillkührlich zusammenzuführen und zu vereinen. Das Promenadehaus* ist fastΔ der einzige Sammelplatz, der wahrhaftig nichts anders Anziehendes hat, als etwa einen Rouge et Noir-Tisch für Spiellustige, ein paar Zeitungs-Blätter für Politiker, und daher auch wenig besucht ist, und dann das neu errichtete Casino im Badischen Hofe, welches mit einem äußerst schönen freundlichen Lokale einige der gelesensten Zeitschriften vereinigt, und wo man alle Abende einen gewählten angenehmen Zirkel findet, der sich hoffentlich immer vergrößert und erweitert, je mehr | das Bedürfniß der gegenseitigen Unterhaltung die Bade-Gäste erfüllenΔ wird. Die Entfernung dieser beiden Häuser von einander ist das einzige Unangenehme, und verhindert größtenteils mit das bedeutendere Emporkommen des einen oder des andernΔ. Doch kann es nicht fehlen, daß das Casino mit jedem Tage besuchter und interessanter werden muß.
An sonstigen Unterhaltungen fehlt es nun auch nicht. Die Schauspieler-Gesellschaft des Hrn. Dengler aus Freyburg gibt sich alle MüheΔ, die Zuschauer zufrieden zu stellen, und wirklich sind auch einige recht brave Mitglieder dabey, die – wenn Δ nicht die Wuth Δ existirte, bey ungefährΔ drey und einem halben Manne im Orchester Don Juan, Opferfest, Lodoiska etc. geben zu wollen – recht artigen Genuß verschaffen könnten. Δ Uebrigens gehe ich immer mit einer gewissen Angst vor Feuer oder Wasser hinein; denn unbegreiflich ist es, daß die Stadt so wenig gethan, und ihren Besuchern ein so aus ein Paar Bretern‡ dünn zusammengeheftetes Häuschen hinstellen konnte, dessen Ritzen dem freundlichen Sonnenlichte den Eingang verstatten, und dessen einzige vorhandene Thür bey vorkommender Feuersgefahr den Ausgang bedenklich machenΔ möchte. Da indessen das Fundament des Theaterchens sehr auf die Dauer berechnet scheint, so tröste ich mich Δ mit der Hoffnung, daß es, an einen schicklicheren Platz versetzt, zweckmäßiger und solider wird gebaut werdenΔ. Dem Tanzlustigen öffnet sich hierΔ nun vollends ein weites Feld (wenn auch mitunter auf engen Sälen), denn Bälle sind alle Woche einige in der Sonne, dem Salm und dem badischen Hofe, außer andern mehrernΔ. Ja sogar einen Maskenball hatten wir neulich* in letzterem, der sich durch ein Paar hier beyfolgende Gedichte eines unsrer ersten Dichter interessant machte. Das Gebäude des Badenschen Hofes war nämlich ehemals ein Kapuziner-Kloster, und auf dem Ballsaale (der ehemals, glaube ich, zur Kirche diente) erschien ein Kapuziner, welcher sich nicht wenig über das Wesen und Treiben an dieser Stätte zu ärgern schien. Er vertheilte folgende Strophen:Δ*
O Greuel! Hier, wo wir sonst Gott verehrten,Die Orgel fromm in unsre Feste klang,Wo mancher Geist sich aus den grambeschwertenRegionen auf zum lichten Himmel schwang!Hier seh’ ich nun die wilden, die verkehrtenGemüter frech berauscht in Lust und Sang!Die stille Kirche muß so hell erglänzen,Musik ertönen zu den flücht’gen Tänzen?Eine andre Maske gab dagegen folgendeAntwort an den Kapuziner.Mein Freund, es zürnt kein Gott dem leichten Leben, Das gern vergißt, wovon es oft gequält;Beglückt, wenn alle Tage Freuden geben,Daß er nach Lust und Scherz die Stunden zählt!Der darf so hoch den frohen Muth erheben,Den Glauben, der ihn gegen Leiden stählt,Daß, wo sich arglos gute Menschen freuen,Die heil’gen Tempel Gottes sich erneuen.Zum TrosteΔ aller Freunde Ihres Leichnams kann ich auch noch mit Recht versichern, daß man durchaus sehr gut ißt und trinkt, daß die Gasthöfe bequem, wohlfeil und gut bedient sind. Der Badische Hof, der Salm und die Sonne sind die vorzüglichstenΔ. In allen diesen ist der Tisch gleich gut; aber in Hinsicht des Lokals erhebt sich der Badische Hof* weitΔ über die andern: der schöne hohe Speisesaal, der sein Licht von oben erhält, der geschmackvolle Casino-Saal und die schönen steinernen Bäder, die in den andern Häusern nur von Holz, und in finstern Kämmerchen gefunden werden, müssen diesen Gasthof von Jahr zu Jahr besuchter und beliebter machen; auch haben künftig die Gäste Hoffnung, da gewiß unterkommen zu können, weil außer den schon vorhandenen 60 Gastzimmern noch eine bedeutende Anzahl dazu gebaut werden wird.Δ
Was dieses unendlich überwiegtΔ und Δ Baden immer zum ersten Range der Bäder und zu einem ewig besuchten Orte machen wird – ist die einzig schöne Natur, von der es umgeben istΔ. Ich kenne manches Bad, aber noch nirgends habe ich so mannigfaltige Gegenden um einen Ort vereinigt gefunden. Freundliche und erhabene Aussichten, Berge und Felsen auf der einenΔ, liebliche Ebenen auf der andern Seite, die Nähe des herrlichen Murgthals etc., alles dieses sind unvergängliche Vorzüge,Δ haben Baden schon den Römern werth gemacht, und werden es auch jetzt und ewig den Galliern und Germanen theuer erhalten.
Häufig theilt sich daher auch die Gesellschaft in kleine Landpartien, von denen Jeder befriedigt und erfreut zurückkehrtΔ, indem er in seine Heimath dann das Andenken und den Wunsch es wieder zu sehen mit sich nimmt.
Den 3 August 1810.ΔMelos.Editorial
Summary
Weber resümiert über seinen Besuch in der Kurstadt, Abstieg im Badischen Hof; erwähnt die große Zahl der Badegäste; erläutert die wichtigten Treffpunkte der öffentlichen Gesellschaft; Unterhaltung durch Schauspieler-Gesellschaft des Hrn. Dengler aus Freiburg; lobt die gute Gastwirtschaft und die schöne Natur der Umgebung
General Remark
Zuschreibung: autographer Entwurf Berlin SBB Sigle (Melos.); TB, Moralische Uebersicht des Jahres 1810: Aufsaz über Baaden Baaden. Morgenblatt.; zum Auftrag von Cotta vgl. auch Brief von Weber an Gänsbacher vom 24. September 1810; zu Weber in Baden-Baden vgl. Frank Ziegler in: Weberiana 30 (2020), S. 29–48
Creation
1. August 1810 (laut A und TB)
Tradition in 2 Text Sources
-
1. Text Source: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 4, Nr. 190 (9. August 1810), pp. 757–758
Corresponding sources
-
mit Ergänzung aus dem Entwurf in: Kaiser (Schriften), S. 417–421 (Nr. 16)
-
-
2. Text Source: Draft: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Shelf mark: Mus. ms. autogr. theor. C. M. v. Weber WFN 6 (II), Bl. 19a/r–19b/rPhysical Description
- 1 DBl. 3 b. S., S. 4 leer bis auf die auf dem Kopf stehende Überschrift: Literarische Versuche
- Incipit: “Ich stieg aus dem Wagen, als ein Freund von mir”; datiert: “d: 1t August 1810 in Baaden geschrieben für Cotta”.
- Format 34,3x21,1 cm, Ränder ungerade; WZ ist vorhanden, aber kaum zu erkennen; Manuskript von Weber mit S. 31–34 paginiert
Corresponding sources
-
HellS II, S. 26–32
-
MMW III, S. 19–22
Thematic Commentaries
Text Constitution
-
“anders”sic!
-
“Bretern”sic!
-
“… in der Sonne und dem”in Hell II, S. 30 und MMW III, S. 31 falsch mit „Salon“ übertragen
Commentary
-
“… Ueber Baaden-Baaden”Vorliegender Artikel entstand kurz nach Webers Aufenthalt in der Kurstadt. Er hielt sich vom 20. Juli bis 2. August 1810 dort auf mit dem Ziel, ein Konzert geben zu können, was dann aber nicht zustande kam, v.a. weil ein geeignetes Instrument fehlte.
-
“… und zu vereinen. Das Promenadehaus”1766 erbaut, an dessen Stelle wurde 1821–1823 der Mittelbau des heutigen Kurhauses von Friedrich Weinbrenner erbaut, der Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts um zwei Seitenflügel ergänzt wurde.
-
“… schien. Er vertheilte folgende Strophen:”Die beiden folgenden Gedichte fehlen im Entwurf; weiter geht es dort mit dem Abschnitt „Zum Trost aller Freunde …“. Die beiden Absätze danach waren hier ursprünglich in ihrer Reihenfolge vertauscht, wurden von Weber schon im Entwurf mittels Ziffern und Klammerung umgestellt.
-
“… erhebt sich der Badische Hof”Der Badische Hof, 1807–1809 durch Friedrich Weinbrenner aus einem alten Kapuzinerkloster umgebaut, war erstes Luxushotel Badens.
Readings
-
Text Source 1: “Wohin? rief ich ihm zu.”Text Source 2: “wohin! rief ich ihm zu?”
-
Text Source 1: “beym”Text Source 2: “am”
-
Text Source 1: “erhaschen”Text Source 2: “bekommen”
-
Text Source 1: “wie dringend man mir schreibt,”Text Source 2: “man schreibt mir sehr dringend”
-
Text Source 1: “kann”Text Source 2: “könnte”
-
Text Source 1: “anderm”Text Source 2: “anders”
-
Text Source 1: “dieses”Text Source 2: “dieß”
-
Text Source 1: No text present.Text Source 2: “in Baaden”
-
Text Source 1: “.”Text Source 2: “, denn”
-
Text Source 1: “Partien”Text Source 2: “Theile”
-
Text Source 1: “Zirkel”Text Source 2: “Wesen”
-
Text Source 1: “welchen er sich”Text Source 2: No text present.
-
Text Source 1: “in welcher Hinsicht”Text Source 2: “wo”
-
Text Source 1: “fast”Text Source 2: No text present.
-
Text Source 1: “erfüllen”Text Source 2: “vereinen”
-
Text Source 1: “des einen oder des andern”Text Source 2: No text present.
-
Text Source 1: “Die Schauspieler-Gesellschaft des Hrn. Dengler aus Freyburg gibt sich alle Mühe”
-
Text Source 1: No text present.Text Source 2: “nur”
-
Text Source 1: No text present.Text Source 2: “hier”
-
Text Source 1: “ungefähr”Text Source 2: No text present.
-
Text Source 1: No text present.Text Source 2: “Denn um sich in solchen Opern, auf diese Art gegeben zu ergözen, müßten sie um vieles schlechter als von der Denglerschen Gesellschaft gegeben werden.”
-
Text Source 1: “bedenklich machen”Text Source 2: “erschweren”
-
Text Source 1: No text present.Text Source 2: “immer”
-
Text Source 1: “an einen schicklicheren Platz versetzt, zweckmäßiger und solider wird gebaut werden”Text Source 2: “solider gebaut werden wird”
-
Text Source 1: “hier”Text Source 2: No text present.
-
Text Source 1: “Woche einige in der Sonne, dem Salm und dem badischen Hofe, außer andern mehrern”Text Source 2: “Mittwoch und Sonntag 2 in der Sonne und dem Salm, und außerdem noch andere”
-
Text Source 1: “neulich in letzterem, der sich durch ein Paar hier beyfolgende Gedichte eines unsrer ersten Dichter interessant machte. Das Gebäude des Badenschen Hofes war nämlich ehemals ein Kapuziner-Kloster, und auf dem Ballsaale (der ehemals, glaube ich, zur Kirche diente) erschien ein Kapuziner, welcher sich nicht wenig über das Wesen und Treiben an dieser Stätte zu ärgern schien. Er vertheilte folgende Strophen:”Text Source 2: “, Concerte pp: fehlen auch nicht, nur war leider, und unbegreiflicherweise noch kein Declamatorium.”
-
Text Source 1: “Troste”Text Source 2: “Trost”
-
Text Source 1: “Der Badische Hof, der Salm und die Sonne sind die vorzüglichsten”Text Source 2: “Die vorzüglichsten sind der Badische Hof, der Salm, die Sonne pp:”
-
Text Source 1: “in Hinsicht des Lokals erhebt sich der Badische Hof weit”Text Source 2: “weit erhebt sich in Hinsicht des Locals der Badische Hof”
-
Text Source 1: “der geschmackvolle Casino-Saal und die schönen steinernen Bäder, die in den andern Häusern nur von Holz, und in finstern Kämmerchen gefunden werden, müssen diesen Gasthof von Jahr zu Jahr besuchter und beliebter machen; auch haben künftig die Gäste Hoffnung, da gewiß unterkommen zu können, weil außer den schon vorhandenen 60 Gastzimmern noch eine bedeutende Anzahl dazu gebaut werden wird.”Text Source 2: “die schönen steinernen Bäder, da die in den andern Häusern nur von Holz, der geschmakvolle Casino oder Conversations Saal, wird ihn von Jahr zu Jahr besuchter machen, und auch haben die Gäste künftig Hoffnung da gewiß unterkommen zu können da außer den schon vorhandenen 80 Zimmern noch 60 dazu gebaut werden.”
-
Text Source 1: “Was dieses unendlich überwiegt”Text Source 2: “Alles dieses überwiegt unendlich”
-
Text Source 1: No text present.Text Source 2: “wird”
-
Text Source 1: “wird – ist die einzig schöne Natur, von der es umgeben ist”Text Source 2: “, die einzig schöne Natur die Baden umgiebt”
-
Text Source 1: “auf der einen”Text Source 2: No text present.
-
Text Source 1: “Vorzüge,”Text Source 2: “Schönheit, und”
-
Text Source 1: “von denen Jeder befriedigt und erfreut zurückkehrt”Text Source 2: “und befriedigt und erfreut kehrt jeder von da zurük”
-
Text Source 1: “Den 3 August 1810.”Text Source 2: No text present.