Carl Maria von Weber an Gottfried Weber in Mainz
Prag, Samstag, 16. September 1815

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Lieber Bruder!

Deinen Brief vom 26t August erhielt ich d: 31t in München und konnte über meine Abreise Anstalten ihn nicht mehr beantworten. d: 5t September segelte ich von den guten Menschen ab, die alles gethan um meinen finsteren Sinn wieder für des Lebens freuden empfänglich zu machen. Je näher ich meinem ZwangStall kam, desto mehr schwand das bischen schwer errungene Heiterkeit. d: 7t traf ich ein, und fand zu meiner unbeschreiblichen Freude Bruder Gänsbacher hier*. Eine herrliche Stüzze, und treue Freundes Brust die mich erträgt, und mit mir trägt.      die Beylagen sagen dir von ihm selbst das mehrere*.      Du hast mich höllisch herunter gemacht H: Bruder, hast beynah durchaus Recht, thust mir aber sehr Unrecht wenn du mich zum Schwächling herabgesunken glaubst.      Wer im Stande ist, im Glük der Liebe, blos weil er einsieht, daß es nicht ganz ihm gehören könne, und er dadurch für alles übrige verlohren gienge – sich loszureißen, und das Glük des Lebens seiner Ueberzeugung zu opfern; der ist wohl noch ein Mann.      daß aber die Wunde nicht schmerzen soll, ist zuviel verlangt. und wenn ich auch im Stande bin mich vom Schmerz nicht ganz für alles andre vernichten zu laßen, so kann ich mir doch sein Dasein nicht wegräsoniren.      Zudem, denke dir die unglüklichen Verhältniße die mich zwingen Lina täglich zu sehen. — du willst ich soll dir ausführlich die Geschichte schreiben. — kann man so etwas? das sind Träume, Phantasie, Geburten, Augenblike, die man höchstens mündlich nach und nach anschaulich machen kann.      Doppelt Unrecht hast du aber wenn du glaubst, ich habe dir vorgelogen wegen meiner hiesigen KunstVerhältniße, die sind aufs Haar so wie ich dir immer schrieb. Rechne nun also diese beyden Gefühle zusammen, dieses isolirt stehen in jeder Hinsicht, es ist zum Verzweifeln.

Der Schluß deines Briefes ist wieder so gut und innig, daß ich dich dafür an mein Herz drükken möchte. da erkenne ich meinen Gottfried wieder.      Ja du hast Recht, es gibt nur ein Mittel, die Zeit, und – Entfernung. lezteres Mittel, kann ich leider erst in Jahr und Tag ergreiffen da mein Contract noch so lange dauert. dann aber gehts aufs neue in die Welt.      Von hier nach Berlin, Hamburg, Kopenhagen. zurük durch Deutschland nach Italien, und vielleicht nach England.      Ich gebe die Hoffnung nicht auf dich in | einer dieser Perioden zu sehen, und dann in deine treue Brust allen Schmerz niederzulegen.      Ich arbeite viel und angestrengt. ich suche alle Litterarische Verbindungen hervor kurz ich will, da ich mich ganz der Kunst opfere, nun auch mit vollen Kräften ihr dienen. ich will nachholen und vorarbeiten.      Vor allem beschäftigt mich noch meine Cantate an der ich gerne ein würdiges Werk liefern möchte.

Bischoffs Concert kömt doch endlich zu Stande. ich habe eine Anzeige davon in die Musik: Zeitung geschrieben.*

Da ich eine solide Fuge zum Schluße der Cantate schreibe, so studire ich der Neugierde halber Marpurgs Abhandlung von der Fuge durch.      Mein Gott! wie einseitig, diktatorisch und nichts beweisend, oder auf wahrhaft aus der Natur der Sache gegriffene Gründe sich stützend – schreiben die Herren*.      Wer nur Zeit hätte einmal ein Ästhetisch Logisches FugenSystem zu schreiben.      Wie viel ist überhaupt noch zu thun übrig, und wie viele Brachfelder giebt es noch in der Kunst. Die Musikanten sind wahre Leibeigene. sie arbeiten nur so viel als zum Freßen nothwendig ist.

Nun heißts schließen: Möge dir unser Protokoll so viel Spaß machen als wir deiner theilnehmend dabey gedachten.      ich grüße meine liebe Frau Baas aufs herzlichste. Lebe wohl und behalte lieb deinen alten treuen Bruder Weber.

a propos in meinem nächsten Brief trage ich endlich meine Schuld abT. Für heute ist es zu spät, weil ich Esel nicht in der Früh daran dachte.

Editorial

Summary

berichtet über seine Rückkehr nach Prag; betr. Caroline Brandt; Reisepläne; teilt mit, dass er viel arbeite, vor allem an der Sieges-Kantate, an deren Schluss eine Fuge stehen solle; äußert sich über Marpurgs Abhandlung von der Fuge

Incipit

Deinen Brief vom 26t August erhielt ich d:31t in München

Responsibilities

Übertragung
Eveline Bartlitz; Joachim Veit

Tradition

  • Text Source: New Haven (US), Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library (US-NHub), Frederick R. Koch Foundation

    Physical Description

    • 1 Bl. (2 b. S. o. Adr.)
    • auf der Rectoseite unten von fremder Hand (Blei): “Roek”

    Corresponding sources

    • Bollert/Lemke 1972, S. 70–71
    • tV: MMW I, S. 498–499
    • Worbs 1982, S. 71–72

    Commentary

    • “… unbeschreiblichen Freude Bruder Gänsbacher hier”Vgl. dazu den Kommentar zum vorhergehenden Brief an Gottfried Weber vom 20. August 1815.
    • “… von ihm selbst das mehrere”Laut Tagebuch handelte es sich um ein Protokoll [für den Harmonischen Verein] sowie einen Brief Gänsbachers.
    • “… in die Musik: Zeitung geschrieben.”Vgl. auch Webers Brief an Rochlitz vom 11. September.
    • “… stützend – schreiben die Herren”Zu Webers Meinung über Marpurgs Abhandlung von der Fuge (Berlin 1753/54) vgl. auch Webers Brief an Gottfried Weber vom 2. Februar 1816.

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