Carl Maria von Weber an Thaddäus Susan in Salzburg
Wien, Freitag, 11. November 1803
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Die Stimmung in der dein Brief vom 30. October geschrieben, versetzte mich auch in so unangenehme Empfindungen, daß es mir nicht möglich war, ihn eher zu beantworten. Vorgestern früh setze ich mich zu meinem Tische um dir zu schreiben, als plötzlich der Briefträger deinen Brief vom 5. dieses, worin du mir die Ankunft meines Vaters meldest*, bringt. — Weg war alle Ruhe, um schreiben zu können, und es trieb mich bis jetzt immer in einem Kreise von unbeschreiblichen Empfindungen herum, die mir unmöglich Gelassenheit genug übrig ließen, dir, liebster Bruder, zu schreiben. — Etwas hat sich der Sturm gelegt, aber noch nicht ganz. Mein Vater ist noch nicht hier, da er doch der Zeit nach schon gestern hätte kommen können. – Die Vorstellung deiner Lage in solchen Umständen, der Gedanke an deine eigne Gemüthsverfassung dabey – die Frage des warum der Ankunft meines Vaters – die Erwartung der Dinge, die da kommen werden — das alles wirbelt unaufhörlich in meinem Kopfe herum. Der Zustand der armen Antonie Wallner geht mir wirklich sehr zu Herzen, ich sprach mit deinem Bruder darüber und wir schimpften beyde herzlich auf die prahlerische Unwissenheit eurer Quaksalber; hiebey schwebt mir immer meine selige Mutter vor den Augen, die auch das Opfer Parisanischer Ignoranz* in ihren schönsten Jahren wurde, – Gott gebe dieser Ruhe und jener Gesundheit. Sage ihr meinen Antheil an ihrem Schicksale und empfehle mich der ganzen verehrungswürdigen Familie bestens. Deiner Schwester wünsche auch gute Besserung, der Bidinger Bader oder ein Esel mit einem Doktorhut, werden wohl ziemlich gleich seyn. Dich Seelenkranken bitte, im Namen alles, was dir theuer ist, — schone dich, denke, daß du einem liebenden Mädchen und einem dich ebenso zärtlich liebenden Freunde Rechenschaft über die Erhaltung deiner körperlichen und geistigen Gesundheit schuldig bist, erhalte dich uns, wenn du dich dir selbst nicht erhalten willst. – Daß du unsern Freund Arand kennen gelernt und bewährt gefunden, freut mich sehr*, Madame Werner bitte mich zu empfehlen, und ihr zu sagen, Hr. von Lang ließe sie auch vielmals grüßen. Es ist eine gute Seele, sie dauert mich sehr; sobald ich besser aufgelegt bin, werde ich ihr ein paar Zeilen schreiben, dießmahl ist es mir unmöglich. — Über das Betragen meines Vaters gegen sie, geziemt mir nicht zu urtheilen, — doch du kennst meine Gesinnungen in diesem Punkt; deine edle Offenherzigkeit in diesem Punkt ist mir wieder ein Beweiß mehr deiner Freundschaft für mich. – Mademoiselle Strobel kenne ich nicht persönlich, der Vater schrieb mir blos sie ließe sich mir empfehlen, thue also dieses wieder entgegen. — Ich weiß nicht, erhältst du meine Briefe nicht, oder was es sonst ist, am Ende jedes deiner Briefe beklagst du dich daß ich dir so selten schreibe, du glaubst ich hätte so viel Stoff? – nichts weniger, ich lebe ein so einförmiges Leben als nur ein Mensch in Wien leben kann. Local-Neuigkeiten, die auch sparsam sind, interessiren dich nicht, und bey mir geht alles so im immerwährenden Gleise fort, daß ich wirklich verlegen wäre an jemand anders als einen Freund zu schreiben. – In meinem letzten Briefe habe ich dir etwas von dem Zustand der hiesigen Musik geschildert*, nun muss ich dir doch auch den Triumph des Wiedner Theaters über das in der Stadt schreiben. Beyde studirten zugleich unwissend die nämliche französische Oper ein, endlich erfährt es das Hoftheater, und eilt nun, dem andern zuvor zu kommen, welches es auch wirklich um einen Tag bewirkt, aber, siehe da, das Stück wird ausgezischt; den andern Tag erscheint es auf der Wieden, wird mit Beyfall aufgenommen, und ist nun schon 8mal hintereinander gegeben worden. Das Stück an sich selbst ist arm, die Intrigue einmal für allemal gesehen, die Musik – leicht von Dalleyrak. Sie heißt der Onkel als Bedienter*. Auf der Wieden wird eine neue große Oper Cyrus von den Gebrüdern Seyfried nächstens auf das Theater kommen*, es soll sehr gefällige Musik seyn, die Handlung ist eigentlich von Peter dem Großen, den man aber geschwind um ein paar Jahrtausende rückwärts geschoben und aus einem Russen zu einem Perser gemacht hat, das thut aber nichts, man nimmt das hier nicht so genau. Daß dir mein Vater nicht auch den 2.Theil von Bach mitgebracht hat, ärgert mich, ich werde sorgen, dass du ihn nebst den Beyspielen erhältst*. Über Agrikola und Riegel‡ habe ich dir schon im letzten Briefe geschrieben*. Kirnberger ist mir zu theuer, von Voglers Choralsystem möchte ich wohl wissen, was es kostet. Freylich schrieb er mehrere theoretische Werke, die Mannheimer Tonschule, das Handbuch zu seinem System etc*. Das Lied von Danzi werde auf deine Empfehlung kaufen. Danzi ist ein verdienstvoller, leider nur noch zu wenig bekannter und in München unterdrückter Componist. Für die durch Leipzig geschickte Rezension danke herzlich und Härteln werde ich nächstens von Schmelz Verdiensten schreiben. Bey Artaria werde ich auch nachfragen und dir das Resultat davon schreiben. – Auf die Bemerkung über mein Lied* antwortete ich dir folgendes: du hast recht, in der strengen Schreibart darf keine Stimme die andere überschreiten, weil jede Stimme für sich ein Ganzes ausmachen muss; aber in der freyen Schreibart, wie hier, wo alle drey Stimmen, besonders auch dem Texte nach ein Ganzes ausmachen, scheint es mir sehr erlaubt. Es ist sehr schlimm, daß wir in unserer Kunst keine andere Norm als die Erfahrungen oder vielmehr die zu Regeln gewordenen Gewohnheiten unserer ersten Tonsetzer haben, der große Haufe hilft sich mit dem, daß er bey einer solchen Frage das Verfahren großer Meister zur Regel und zum Beweise macht, weh dem, der in solchen Fällen kein richtiges Kunstgefühl hat, und hat er es, es nicht entscheiden läßt. – Durch Voglers System fällt nun freylich das Herumtappen in der Finsterniß weg, aber wie wenige kennen es, wie lange wird es brauchen die verjährten Vorurtheile auszurotten, und es durchgängig einzuführen? – Den Räthselcanon von Neukomm werde ich aufzulösen suchen. Weder bey Joseph Haydn, noch Baron Braun war ich, werde aber nächstens an beyde Orte gehen, die Flötisten der Theater kenne ich nicht persönlich, sie sind aber sämtlich sehr brav; daß ich dir es gleich berichten werde, wenn ich wo eine Stelle finde, kannst du dir vorstellen. Dein Bruder grüßt dich, wir sehen einander oft, und sind gute Freunde, bey einer Pfeife Tabak verplaudern wir manche Stunde von dir und Salzburg. Es ist eine gute Seele. Für Wallner habe ich fürs Erste Mayer, Conti, Cimarosa, Righini und Knecht*. Wenn ich noch einige dazu bekommen habe, werde ich sie ihm schicken.
Empfehle mich ihm unterdessen vielmals. Ich erwarte mit Ungeduld die
Ankunft meines Vaters, diese ewige Spannung ist mir sehr unangenehm, sobald er hier
ist, werde ich dir genug zu schreiben haben. Jetzt lebe wohl, schreibe mir bald
wieder und vergiß nicht deines dich ewig liebenden Bruders
C. M. v. Weber m. p.
Editorial
Summary
fürchtet die angekündigte Rückkehr des Vaters; Privates; über gemeinsame Bekannte; über die Theatersituation in Wien, über geplanten Kauf theoretischer Werke; Stellungnahme zur Kritik an seinem Lied; Lob von Voglers System; hat Musikerporträts für Wallner besorgt
Incipit
“Die Stimmung in der dein Brief vom 30. October”
Responsibilities
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Tradition
Text Constitution
-
“Riegel”sic!
Commentary
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“… auch das Opfer Parisanischer Ignoranz”Es bleibt bislang unklar, bei welchem Arzt Genovefa von Weber in Behandlung war, Silvester Barisani (1719–1810) oder (wahrscheinlicher) dessen Sohn Joseph Barisani.
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“… bewährt gefunden, freut mich sehr”Syndikus Franz Anton von Arand war auf der Rückreise von Wien am 29. Oktober in Salzburg eingetroffen und „in der Traube“ abgestiegen; vgl. Intelligenzblatt von Salzburg, Jg. 1803, Nr. 45 (5. November), Sp. 709. Kurz zuvor war auch dessen Bruder Leopold von Arand von Wien kommend durch Salzburg gereist; vgl. ebd., Jg. 1803, Nr. 42 (15. Oktober), Sp. 659 (Ankunft am 7. Oktober).
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“… heißt der Onkel als Bedienter”Der Einakter L’oncle valet von Pierre Antoine Dominique Della Maria (nicht von Dalayrac) war zunächst am 2. November 1803 in der Übersetzung von Treitschke als Der Onkel in Livree im Hoftheater gegeben worden, ab 3. November 1803 dann in derselben Übersetzung als Der Onkel als Bedienter im Theater an der Wien; vgl. [Matthäus Voll,] Chronologisches Verzeichniß aller Schauspiele, deutschen und italienischen Opern, Pantomimen und Ballete[n], welche seit dem Monath April 1794 bis wieder dahin 1807 […] aufgeführet worden sind, Wien 1807, S. 38 bzw. 96f. sowie den Bericht in der AmZ, Jg. 6, Nr. 7 (16. November 1803), Sp. 110–112.
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“… nächstens auf das Theater kommen”Zur Uraufführung im Theater an der Wien am 22. November 1803 vgl. u. a. AmZ, Jg. 6, Nr. 10 (1. Dezember 1803), Sp. 163 und Nr. 11 (14. Dezember 1803), Sp. 180.
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“… ihn nebst den Beyspielen erhältst”Vgl. Komm. im Brief von Weber an Susan vom 30. Juni 1803.
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“… Handbuch zu seinem System etc”Voglers Choral-System, Kopenhagen 1800, seine Mannheimer Tonschule (3. Jg., 1778–81) u. a., Kirnbergers Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Berlin und Königsberg 1774–79 sowie Werke von Agricola und Riepel fehlen in Webers Büchersammlung; vgl. Eveline Bartlitz, Ein-Blick in Carl Maria von Webers Bücherschrank, in: Weberiana 17 (2007), S. 34.
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“… die Bemerkung über mein Lied”Vermutlich Ein Gärtchen und ein Häuschen WeV G.2; vgl. dazu Joachim Veit, Der junge Carl Maria von Weber. Untersuchungen zum Einfluß Franz Danzis und Abbé Georg Voglers, Mainz u. a. 1990, S. 72.