Aufführungsbesprechung Berlin, 1821: (u. a. mit „Preciosa“ und „Freischütz“ von Carl Maria von Weber)
Über den Geist und Zustand unserer Bühnen, denn wir haben deren (Potsdam und Charlottenburg mit eingerechnet) vier, ließe sich viel sagen, wenn durch Reden nur geholfen und verbessert würde. Man darf aber nur den Blick aus das Repertoire eines Monaths werfen, um zugleich den vorherrschenden und herrschenden Geschmack des Publikums kennen zu lernen. Ich nenne diesen Geschmack herrschend, weil er es ist, der Haus und Kasse füllt oder beyde leer läßt. Opern, Ballets und Spektakel-Stücke sind bey uns, was Circenses bey den Römern waren. Die schönen Zeiten des griechischen Trauerspiels sind vorüber. Aristophanes, Plautus, die Milesischen Fabeln, die sathyrischen Spiele, die Gladiatoren, der Circus, die Naumachien, die Schönobaten, Mimen und Pantomimen sind wieder an die Tagesordnung gekommen, und haben den Thron der Melpomene und Thalia bestiegen. Nur Polyhymnia behauptet noch ihre Rechte, und die Oper ist bey uns immer ein Stern ersten Größe. Bemerken | Sie aber, daß er es von jeher war, und nicht erst durch die Erscheinung der Sternschuppe aus Paris geworden ist. Wir hatten diesen Monath Don Juan (zwey Mahl), Belmonte und Konstanze, die Zauberflöte, Alceste, Titus (zwey Mahl), die Bajaderen; und die kleinen Singspiele: der Gefangene, neue Gutsherr, endlich den Freischütz von M. von Weber (zwey Mahl). – Der eigentlichen Ballets waren nur zwey; die neugegebene Aschenbrödel oder das Zaubermädchen (Dichtung vom Hrn. Carl von Mg., Tänze von Telle, Musik von Schneider, nach dem franz. Vaudeville. Die Lustbarkeiten im Wirthsgarten wurden von den Eleven der Tanzschule ausgeführt, um dieses beliebte pantomimische Ballet in neuer und pikanter Form zu geben. – Kommen wir auf das eigentliche Trauer- und Schauspiel, so sieht es traurig aus, sobald das Schauen nicht in Thätigkeit gesetzt, aus dem französischen Wort Spectacle nicht das deutsche Spektakel - Stück gebildet wird. Die Direktion hat es löblich versucht, nur einiger Maßen dem Geschmack an den Puls zu fühlen, und den Sinn für’s Alte und Gute, aber Einfache, wieder zu erregen. Umsonst Mühe und Studium der Künstler. Wallensteins Tod, Selbstbeherrschung, die unglückliche Ehe durch Delikatesse, Lorenz Stark, das Taschenbuch, wurden fleißig und ohne Tadel gegeben, aber kalt und abstoßend aufgenommen. Lebt also wohl, Tragödien und Dramen, Schiller, Iffland, Schröder, Engel, der bessere Theil von Kotzebue; ihr wahren Komiker der Natur; ihr Mahler des menschlichen Herzens; macht den ausländischen Modestücken, räumt dem offenen Geheimnis die ersten Stellen ein; weicht dem Geschmack am Gräßlichen, am Märchen – der Ahnfrau; weicht dem Geschmack am Abenteuerlichen, an Zigeunerey – der Preciosa; weicht dem Niedrigkomischen – der falschen Prima Donna, dem Vogelschießen, dem Stre‡lauer Fischzug: tretet ihnen das erste Theater von Berlin de- und wehmüthig ab, und verbergt euch in das enge Plutonische Haus, Numa quo devent et Ancus. Ihr hieltet euch, zu eurer Zeit, durch eigene Kraft; ihr bedurtet nicht des fremden Flitterschmucks des Tanzes, der Musik, der zahlreichen Gefolge, der Decorateurs und Kostumeurs. Jetzt, jetzt sehen wir den Wald vor lauter Bäumen, das Theater vor dem wesentlich gewordenen Theaterpompe nicht. Jetzt ist die incorrupta fides, die nuela veritas, d. i. treue Nachahmung der Natur, die nackte Wahrheit nichts mehr; Farben und Töne sind Alles. – Zu bemmerken ist, daß vorzüglich die Verkleidungen Glück machen – ein Zeichen der Zeit, auch außer der Bühne. Der Oberst, der Hagelschlag (ein neues Stück von A. von Thale, dessen Nahme ebenfalls eine Bekleidung ist), die Vertrauten der neue Gutsherr, die Prima Donna ec. ec. machen Stück, wäre es auch nur, damit sich dieselbe Person oft umkleiden, damit, als pikante Neuerung die Frau als Mann, der Mann als Frau erscheinen möge. Ich schließe meinen mürrischen Essigausgus mit der Bemerkung, daß ich über die 60 hinaus bin, und empfehle zugleich meinem Kollegen mit zwey Sternen (die ich gern mit den beyden schönen Nachbarplaneten an unserm Winterhimmel, Jupiter und Saturn, vergleichen möchte), ihn zu versüßen, und Ihnen rech viel über v. Deckers Hagelschlag und Jul. v. Voß’s Stre‡lauer Fischzug zu sagen.
[…]Apparat
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Amiryan-Stein, Aida
Überlieferung
-
Textzeuge: Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, Jg. 6, Nr. 148 (11. Dezember 1821), S. 1245–1247