Aufführungsbesprechung Berlin, Schauspielhaus: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 20. August 1822
Theater in Berlin.
Den 20. August: „Der Freischütz.“
Sie haben, lieber Herr Redakteur, in Ihren Blättern schon so viel und unter dem Vielen manches Gute und Gewichtige über des Deutschen Weber herrlichen "Freischütz" sagen lassen, daß wir unser geringes Schärflein gern zurückhalten würden, wenn nicht die heutige Aufführung dieser Oper, durch eine einstweilen veränderte Besetzung der Hauptpartieen, gleichsam eine neue Edition des trefflichen Werkes gewesen wäre. Die Agathe sang Mad. Schulz, die Bereitwillige, Unermüdliche, und wenn diese heute nicht in dem Maaße ergriff und bewegte, wie gewöhnlich, und wie es der abwesenden Mad. Seidler in dieser Partie gelang, so liegt die Schuld wohl nur in der verschiedenen Individualität beider Künstlerinnen. Wollten wir hier ein Bild aus dem Gebiete der plastischen Kunst gebrauchen, so müßten wir die Stimme der Mad. Schulz mit dem Olympischen Jupiter des Phydias, und die der Mad. Seidler mit der Gnidischen Göttinn des Praxiteles vergleichen, und es bedarf wohl keines besonders großen musikalischen Sensoriums, um zuzugeben, daß die Darstellerinn der Olympia, Julia, Amazili u. a., sich nicht so leicht mit der mildfrommen, kindlich-religiösen Agathe familiarisiren kann. Was Mad. Seidler in dieser Partie vor Mad. Schulz noch voraus hat, werden wir uns wohl hüten, zu verrathen; wir möchten nicht gern ungalant gescholten werden. Dessen ungeachtet hat die Letztere ihren festgestellten Ruf als ausgezeichnete Gesangeskünstlerinn auch dieses Mal bewährt, und sich, was gewiß nicht wenig sagen will, mit vielem Glück in ein ihr ziemlich fremdes Genre des Gesanges zu schicken gewußt. – Dem Ann¦chen der Dem. Reinwald ist früher im Freimüthigen ein eigner Artikel zugestanden worden. Wir billigen das, was dort gesagt worden ist, von Herzen, müssen aber doch bemerken, daß wir ihrem Gesange weniger Monotonie, mehr Ausdruck und Seele gewünscht hätten. Vor Allem gehört aber eine bessere Aussprache der Vokale zu den unerläßlichen Forderungen, denn Dem. Reinwald ist mit dem i gar nicht im Reinen und mit den Diphtongen ie und ei förmlich brouillirt, die oft sogar ins u hinüberklingen. Auch könnte die Sängerinn wohl füglich die Romanze von der kreidigen Nase der alten Base, und die „trüben Augen“ weglassen, welche ursprünglich für eine Dame bestimmt waren, die in einer übermenschlichen Bravour Ersatz für einfache Natürlichkeit und dramatische Zweckmäßigkeit des Spiels zu suchen gewohnt ist. – Als Caspar vikarirte Hr. Hillebrand, der im Ganzen befriedigte, wenn er auch seinen Vorgänger nicht erreichte. Möchte doch dieser brauchbare Künstler seinen Gesten und dem mimischen Ausdrucke mehr Aufmerksamkeit und Fleiß widmen; er läßt sich darin immer noch viel zu sehr gehen, und betrügt sich dadurch um den Beifall, der seinem verdienstlichen Gesange gewiß nie fehlen würde. – Hr. Wiedemann outrirte als Kilian mehr als je, und theilte dadurch der Rolle eine Bedeutsamkeit mit, die ihr durchaus nach der Absicht des Dichters gar nicht gehört. So geberdet sich kein Bauer, und wenn er auch plötzlich zum Dalai-Lama proklamirt würde.
Das bis zum Erdrücken angefüllte Haus bewies abermals, daß der Enthusiasmus für diese originelle Kunstschöpfung kein flüchtiger, sondern ein dauernder sei. Ehre dem Publikum, das für das wahre, hohe musikalische Talent so viel reellen Kunstsinn hegt; Ehre den darstellenden Künstlern und dem thätigen Orchester, die durch eine stets würdige und effektvolle | Executirung des Werkes diesen Sinn immer neu zu beleben und jederzeit rege zu erhalten wissen!
ß.Apparat
Zusammenfassung
Aufführungsbesprechung Berlin: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 20. August 1822
Entstehung
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Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Überlieferung
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Textzeuge: Zeitung für Theater und Musik zur Unterhaltung gebildeter, unbefangener Leser. Eine Begleiterin des Freimüthigen, Bd. 2, Heft 35 (31. August 1822), Sp. 137–138