Ludwig Rellstab: Rezension der Klaviersonaten Nr. 3 d-Moll (WeV Q.4) und Nr. 4 e-Moll (WeV Q.5) von Carl Maria von Weber (Teil 1 von 2)
II. Recensionen.
1) Grande Sonate pour le Pianoforte, composée par Charles Marie de Weber. Op. 49. No. 3 des Sonates. Berlin, chez A. M. Schlesinger. Prix 1 Thlr. 12 Gr.
2) Sonate für das Pianoforte komponirt und dem Herrn Hofrath Friedrich Rochlitz gewidmet von Karl Maria von Weber Op. 70. 4. Sonate.
Wenn wir zwei Werke eines so berühmten Verfassers in der Beurtheilung (oder besser in unserer Ansicht darüber, da das Wort Beurtheilung einem so ausgezeichneten Manne gegenüber etwas Anmaßendes hat) zusammenziehen, so geschieht dies nicht, um, wie das wol mit unbedeutenden Produktionen gehalten zu werden pflegt, mehre opuscula in einem Zuge mit Steck- oder Empfehlungsbriefen zu versehen, sondern weil sich aus der Vergleichung derselben vielleicht manche Ansicht der neuern Musik überhaupt ergeben möchte, die nicht ohne Interesse für den Beobachter der „am sausenden Webestuhle schaffenden Zeit“ sein dürfte. Zwischen beiden Sonaten liegt, so weit wir uns erinnern, ein Zeitraum von wenigstens vier bis fünf, vielleicht sechs bis acht Jahren und länger, während welcher der Komponist die entscheidendsten Erfolge seines Talents erfahren hat. Oeffentlichkeit erzieht und bildet auf großartige Weise; der Einfluß einer solchen Popularität, wie sie Herr v. Weber genießt, ist kaum zu berechnen. Daher scheint es uns nothwendig, daß sich zwischen diesen beiden Sonaten Vergleichungs- und ¦ Unterscheidungspunkte auffinden lassen müssen, die auf entscheidende Resultate sowol in der Seele des Künstlers selbst, als auch in dem Zustande der Kunst überhaupt seit dem Verlauf mehrer Jahre hindeuten. Bei der Erscheinung der ersten Sonate war Rossini’s Einfluß auf die musikalische Welt noch im Werden; er war noch nicht über die Alpen gedrungen. Spontini’s Name galt hauptsächlich nur wegen des großen Erfolgs, den die Vestalin gehabt hatte. Beethovens Fidelio hatte man kaum zu verstehen angefangen, denn er war erst selten gehört worden; selbst die damals schon vollendeten Symphonien dieses Meisters kannten wir nur höchst unvollkommen. Ohne zu untersuchen, ob die angeführten Erscheinungen klassisch oder alexandrinisch genannt zu werden verdienen, läßt sich doch nicht läugnen, daß ihr Einfluß auf das Publikum groß, ja unermeßlich ist, und daß folglich eine Rückwirkung auf die, in solcher Zeit den Gipfel ihrer Laufbahn erreichenden Individuen unvermeidlich, selbst nothwendig ist. Aus diesen vorangeschickten Bemerkungen wird sich der Gesichtspunkt begreifen lassen, aus dem mir diese Werke des verehrten Meisters erschienen sind. Was ich dafür oder dagegen sage, will ich nicht als eine Entscheidung der streitigen Sache ansehn, sondern nur als fragliche Bemerkungen betrachtet wissen, die es gern eingestehn wollen, wie sich der Schreiber dieses in Ansicht und Kenntniß weit unter dem berühmten Verfasser fühlt und seine Belehrung achtend anerkennen würde. *)
| Die erste der vorliegenden Sonaten, D-moll,
beginnt mit einem Allegro feroce im C-Takt. Der Karakter ist
anfangs mehr der der Phantasie als der geregelten Sonate. Kühne seltnere Rythmen mit
wirkungsvoll dazwischengelegten Pausen scheinen erst einigemal kräftig anzustoßen,
bis das Ganze in seinen großen fortreißenden Lauf kommt. Aus dem wilden Karakter geht
es allmählig gegen den Anlang der zweiten Seite in einen sanfteren melodischen Fluß
über. Doch dieser wird bald unterbrochen und der zweite, am meisten im Fortgange
benutzte Satz, tritt folgendermaßen mit energischer Kraft ein.
No. 1.*
Doch scheint er uns nicht in demselben Maaße wirksam zu bleiben, indem sich zu
schnell für unser Gefühl eine vielleicht zu lange, in den milderen melodischen
Gegensatz der Sonate einleitende Stelle anschließt. Dieser Gegensatz hat den Karakter
sanfter Grazie, eine Farbe des Ausdrucks, der auch die Tonart, F-dur, sehr angemessen
ist. Niemand wird darin des geschätzten Komponisten Weise verkennen.
No. 2.
¦ Im Ganzen hält sich jetzt die Sonate in F-dur bis zum Schluß des ersten Theils.
Doch bleibt der Karakter des angeführten melodischen Satzes nicht der allein
vorherrschende, sondern er verbindet sich mit demselben durch zweckmäßige
Bindungssätze und ein bewegter, wenn wir uns das Ausdrucks bedienen dürfen, vom
Wiegen zum Wogen anschwellender Zwischensatz, der weniger auf Melodie, als auf
Verflechtung von Figuren beruht und auf diese Art sehr schön vermittelnd zwischen
beiden oben angeführten Hauptelementen der Sonate steht. Um ihn anzudeuten, mögen nur
drei Takte davon hier stehn:
No. 3.
So hätten wir denn vier Motive, die gewissermaßen das Skelett oder den Kiel dieser Sonate bauen. Sie entwickeln sich im ersten Theile in leichter natürlicher Folge aufeinander, ohne daß sie (eine kleine Andeutung gegen den Schluß ausgenommen) Verwandschaft mit einander verrathen. –
Der zweite Theil tritt mit dem energischen Einleitungsthema (ich muß bitten darüber
die Sonate selbst nachzusehn, weil es zu lang zur Anführung ist) allein in D-dur
wieder ein, wodurch es an Feuer Vielleicht noch gewinnt. Zunächst folgen dann mit
einigen freien Veränderungen die Hauptmomente der Einleitung gedrängter auf einander
und dann beginnt Pag. 7, Syst. 1. die Verarbeitung der angeführten Motive, die im
ersten Theile nur nebeneinander standen. Das erste und
dritte der angeführten Themate treten jezt in kampf mit einander, indem das
erste sich in allen Stimmen als Kontrapunkt zeigt, das dritte dagegen oft mit
eingreifender Gewalt sich da|zwischen wirkt, als wenn es auch die
Uebermacht des ersten bekämpfen wollte. In diesen Kampf tritt plötzlich mit großer
Wirkung das Hauptthema der Einleitung ein und entscheidet den Sieg für das Thema,
indem es dies sogleich als Kontrapunkt beibehält. Man sehe.
Hier scheint der Knoten der Sonate gelöst. Jetzt tritt mit den gewöhnlichen Veränderungen, oder besser Konzentrirungen und Verstärkungen, der erste Satz wieder ein und indem nun die Hauptmodulation desselben eine andere Wendung nimmt, (der Wendepunkt ist bei dem melodischen Thema, unter dem angeführten No. 2, welches jetzt in D-dur eintritt) um in der Haupttonart zu schließen, hören wir den ersten Satz in verwandelter Gestalt wieder, indem sich seine Bestandtheile näher einander anschließen und in interessanter Verflechtung den Schluß herbeiführen. – Aus der entworfenen Skizze sehen wir, daß Herr v. Weber die, den Sonaten eigne Form streng, wiewohl mit der Freiheit, die jedem Dichter zusteht, anerkannt hat. Es herrscht, und das ist die Bedingung jedes Kunstwerks, eine schöne Unterordnung der Theile unter das Ganze, jener Gehorsam gegen das Gesetz, in dem allein die wahre Freiheit besteht. Nirgend wird uns Zwang sichtbar, und doch erkennen wir Herrschaft. Nicht so unbedingt kann ich nach reiner Ansicht sagen: „Nirgend wird uns Willkühr sichtbar und doch erkennen wir Freiheit.“ Es scheint uns, als habe der Komponist besser gelernt, dem strengsten Gesetz zu gehorchen, als seinen Willen zu zähmen, wenn er diesem einmal Freiheit gelassen hat. Eine Stelle, wo uns dies statt gefunden zu haben scheint, ist schon oben angedeutet. In gleicher Art erscheinen mir die Ueberleitungen zu dem unter No. 3. ange¦führten Satz (Pag. 4, Syst. 4, bis Pag. 5, Syst. 3.) und in der Wiederkehr Pag. 10. Hier entfernt sich der Komponist, unseres Erachtens, zu weit von der Hauptrichtung und sucht seinen Effekt mehr in dem Materialismus des Instruments und der Töne, als in ihrer Wesentlichkeit. Daß diese Ausschweifungen in sich nicht ohne Interesse sind, dafür bürgt der Name des Meisters. –
Es kam hier darauf an, den Styl dieser Sonate im Allgemeinen zu bestimmen; deßhalb ließen wir uns auf die genaue Auseinanderlegung des ersten Satzes ein. Allein schwerlich möchte es uns der Raum dieser Blätter gestatten, für jeden Satz einen so bedeutenden Umfang in Anspruch zu nehmen. Deßhalb sei es uns vergönnt, die beiden nächsten Sätze allgemeiner zu behandeln. Der Ruf des Komponisten fodert es überdies nicht mehr, daß man das Publikum mit ihm bekannt zu machen suche; sein Name allein giebt sicheres Vertrauen, daher wird es uns auch von dieser Seite niemand verargen. Das Andante (D-dur) so schön die Hauptmelodie ist, so interessant sie behandelt wird, scheint uns an dem, im ersten Satze angedeuteten Mangel am meisten zu leiden. Die Abschweifungen entfernen sich zu weit vom Ziel und haben ihre Wirkung zumeist in dem Instrumente und in der Virtuosität des Spielers. Doch ist die Form des Ganzen immer gewiß sehr schön, die man am besten seine Variation nennen könnte; Haidn war der Hauptgründer derselben und hat sie in seinen Symphonien oft meisterhaft behandelt. – Also in dieser Beziehung ist es dem Komponisten wiederum nachzurühmen, daß er das Gesetz verehrt, wenn gleich ihm eine gewisse Ungebundenheit oft vielleicht zu lieb ist.
Für den gelungensten Satz in der Ausführung, so wie für den kecksten in der Erfindung müssen wir das Rondo presto (D-dur 3/8 Takt) halten. Es braust in frischer Lust dahin wie ein klares schäumendes Wildwasser, und durchdringt uns mit einem erfrischenden Gefühl jugendlicher Lebendigkeit. Man fühlt sich dabei, wie Homer es aus|drückt: […], vertrauend auf Kraft und Herrlichkeit der Jugend und dieser edle Geist, der es durchweht, wird durch einen Körper verwirklicht, dessen harmonische Ebenmäßigkeit, die nur durch sorgfältige Kunst erreicht wird, ihm eben jene Sicherheit und Leichtigkeit verschafft, die er uns so beherrschend mittheilt. Abwägung aller Verhältnisse, sorgfältige Mischung in Beziehung auf den Karakter der einzelnen Theile und freie Beherrschung strenger musikalischer Gesetze machen dieses Stück zu einem der vorzüglichsten, das uns von der Arbeit des berühmten Komponisten bekannt ist. Als musikalische Einzelheit hebe ich nur die Vorbindung der beiden Themata, pag. 28 und 29, heraus, die eine überraschende und höchst originelle Wirkung thut, und so fließend in das Ganze hineinkommt, daß man Gefahr laufen könnte, die wohl überlegte Absichtlichkeit des Künstlers, die sich dem schärfer Prüfenden darin entdeckt, nicht einmal gewahr zu werden.
[Originale Fußnoten]
- *) Man mißverstehe diese Worte nicht dahin, daß ich der Meinung sei, der Kritiker müsse besser machen können, was er tadle; dann wäre jede Kritk eine unaussprechlich große Anmaßung. Allein bei einem Manne von solcher Einsicht, solchem Gewicht, wie Herr v. Weber, ist es, scheint mir, verzeihlich, wenn ein Beurtheiler in den Stellen, wo er mit dem Schöpfer eines Werkes nicht einig werden kann, nicht zu blind der Unfehlbarkeit seiner Meinung traut.
- NB. Die mit * bezeichneten Figuren sind bloße Vorschläge.
Apparat
Zusammenfassung
Rezension Klaviersonaten Nr. 3 und Nr. 4 von Carl Maria von Weber (Teil 1 von 2) von Rellstab
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Mo, Ran
Überlieferung
-
Textzeuge: Berliner allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 2, Nr. 41 (12. Oktober 1825), S. 326–328