Aufführungsbesprechung Hannover: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber im Juni 1822 (Teil 2 von 3)
Aus Hannover.
(Fortsetzung.)
Man hört das Aufziehen der himmlischen Heerschaaren, hört den melodischen Schlachtgesang der Engel, den frechen Hohnruf der Teufel; dazwischen mischt sich das Zagen, Flehen und der Verzweiflungruf der Erdenbürger. Das wilde Gewirre des Kampfes beginnt, den Hölle und Himmel um die Menschenseele kämpft; erschütternde Klänge, Fugen und Accorde stürmen auf uns ein; dazwischen betet die Liebe am Rande des Schlachtraumes; des Erzengels mahnende, tröstende Feldherrnstimme klingt durch das Schlachtgetümmel und die ewige Vorsicht drüber waltend spricht in ruhigen Donner-Accorden die Entscheidung. – Da schlägt ein seltsamer, klingender Ton durch das Klanggemisch; er tönt wie das Klingen des Schwertschlages eines Sanct Michaels, indem er den Drachen tödtet, oder wie der durchdringende, schillernde Schlag einer Domglocke, die Gottesfriede ruft und einläutet. Etwas dem Aehnliches hat sicher auch der Componist damit sagen wollen, vielleicht selbst den Schlag der ersten Morgenstunde, mit welcher das Gespensterreich endet, denn sogleich hernach tritt Ruhe ein; einige Sieges-Accorde glänzen, und das Ganze löset sich in ein Dankgebet, ein Loblied und Triumph-Chöre auf. –
Keines der Sangstücke scheint der Ouvertüre unwerth, alle Küchlein ähneln der Mutter. – Der Operndichter soll nur Umrisse der Begebenheit und der Personen geben, dem Componisten ist die Ausführung und Schattirung seiner Zeichnung überlassen, und wie diese Aufgabe Maria v. Weber zu lösen versteht, beweiset sein Freischütz, dessen Musik gerade durch ihren lyrischen Charakter uns recht tief in das Innerste der Personen führt, und Herz und Seele derselben vor uns erschließt. – Wie enthüllt Caspars frevelndes Soldatenlied mit den schreienden Pickelflöten den ganzen Bösewicht, und mehr noch die schwere Schlußarie des ersten Akts mit der sichern Schadenfreude! – (Beiläufig gesagt: fanden Musiker von Profession hier Anstoß, indem ein Akt einer großen Oper sich mit einem Final oder wenigstens größern Musikstück schließen solle.) – Wie zeichnet die Arie: "Nein, länger trag’ ich nicht die Qualen!" das Bild des Max, aus mildem Jünglingsinn, leidenschaftlicher Heftigkeit, Zweifel und Glauben zusammen gesetzt! – Wie liegt das Annchen, das sorglose, muthwillige, gute Kind, klar uns vor Augen in dem einzigen Satze: "Grillen sind mir böse Gäste!" – Wie spricht die Agathe so ganz sich aus, wie Frömmigkeit und Liebe sich in ihr Wesen theilen, sowohl in ihrer Prachtarie, dem Culminationspunkte des Kunstwerks: "Wie nahte mir der Schlummer, bevor ich ihn gesehn!" als auch in der Introduction des dritten Aufzuges: "Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt!" wo die Violoncell-Begleitung in verhaltenen, sanften Tönen die tiefste Empfindung andeutet und aufregt. Und nun der Schluß des Mittelakts, wo die grausige Mitternacht mit allem Spuk des Geisterreiches uns umsauset, daß fast die Sinne ¦ vergehen und Schwindel den Kopf ergreift, dieses Uhui des Geister-Chors, die wiederholten Pickelflöten aus dem wilden Soldatenliede, wie Casper sich Stärkung aus der Flasche trinkt, der wiederholte originelle Spott-Chor, als Max auf der Felsenspitze zaudert, die Begleitung des Gesprächs mit dem Höllengeiste, endlich des wilden Jägerzuges Halloh in den Lüften, und zuletzt das tobende Einbrechen eines zerstörenden Orkans, Alles dieses beurkundet einen tongebietenden und beherrschenden Orpheus, und jeder Satz bringt ein grünes Blatt zu seiner Krone. Was weniger zusagte, ist der Gesang des Max auf dem Felsen; das Ganze ist hier zu lang, verzögert zu sehr die Handlung, und die Stelle: "Ich schoß den Adler in hoher Luft!" ist zu kahl und klanglos und spricht unangenehm an. Ebenfalls dehnt sich das Finale der Oper und ermüdet den Zuhörer, obgleich es ebenfalls viel Melodie enthält, und vorzüglich eine schöne Probe des musikalischen Dialogs, wie er seyn sollte, vorlegt; wie schon gesagt, würde ein Theil desselben als Prosa bedeutsamer wirken. So erinnert auch der Canon im zweiten Akte lebhaft an Mozarts Entführung in der Zusammenstellung ernster und scherzender Musik. –
Was die Aufführung auf dem Hannoverschen Hoftheater betrifft, so müssen wir mit Unpartheilichkeit gestehen, daß Regie und Schauspieler Alles aufgeboten haben, dem Dichter und Componisten die gebührende Ehre zu geben; der Erfolg belohnte durch den rauschendsten Beifall, und selbst Fremde, denn es kamen aus den Nachbarstädten ganze Karavanen zu Roß und Wagen zum Feste, Fremde, die auf andern Bühnen dieselbe Oper gesehen hatten, bestätigten des Refer. Ausspruch, in welchem man vielleicht Vorliebe vermuthen dürfte.
Unser Orchester unter des Herrn Kapellmeisters Sutor Anführung bewährte den alten Ruhm. Die Ouvertüre wurde jederzeit da capo verlangt, so auch Annchens Lied: "Kommt ein schlanker Bursch gegangen." An andern Orten verlangt man, nach Journalberichten, hier den Jagdchor, dort den Spott-Chor, dort Caspars Trinklied; der psychologische Beobachter könnte danach Charakterzeichen des Geschmacks der verschiedenen Städte sammeln. – Für Costüm und Dekoration war bedeutender Aufwand gemacht, und mit jeder neuen Darstellung sah man die bessernde Hand der Regie, so daß diese Oper, da sie für stehend auf dem Repertorium betrachtet werden kann, bei uns der höchsten Vollkommenheit eines Bühnenwerks entgegen gehen muß.
Unsere Künstler hatten Ehre von ihren Plätzen zu erwarten, gaben aber auch wiederum den Plätzen Ehre. Hr. Fürst spielt den Caspar vorzüglich durchdacht, zeichnet von vorn herein den Carakter‡ deutlich hin, den verruchten Satanshandlanger und Höllen-Candidaten. Die Einlage am Schlusse, wo er, fast verblutet, sich dennoch aufnimmt, den Hirschfänger hascht und auf den Knieen rutschend die Agathe bedräut, die ein Opfer seiner Eifersucht werden sollte, war wohl angebracht. Hr. Fürst singt das freche Soldatenlied, wie die schwere Schlußarie, so charakteristisch wie fertig und kunstgerecht.
(Der Beschluß folgt.)
Apparat
Zusammenfassung
Ausführliche dramaturgische und musikalische Analyse von Webers „Freischütz“ sowie großes Lob an die Hannoveraner Aufführung desselben
Entstehung
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Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Kühnau, Dana
Überlieferung
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Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 6, Nr. 211 (3. September 1822), S. 844