## Title: Die Eremitenpartie im Freischütz: Kürzungen, Erweiterungen und die Auseinandersetzung um eine vermeintliche Weber-Entdeckung in Budapest ## Author: Frank Ziegler ## Version: 4.12.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A090215 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Die Figuren des Ottokar und des Eremiten sind im Freischütz szenisch und musikalisch lediglich mit Kurzauftritten im Finale bedacht, dabei hatte Librettist Friedrich Kind die Eremiten-Partie ursprünglich wesentlich gewichtiger entworfen: Der Klausner sollte mit seinen Auftritten zu Beginn des I. Akts sowie im Finale die Opernhandlung quasi rahmen. Die von Caroline Brandt (spätere von Weber) angeregte, von Weber begeistert aufgegriffene Idee, die beiden Anfangsszenen der Oper (Szene 1: Eremit allein, Szene 2: Eremit und Agathe) zu streichen und das Werk mit der ursprünglichen Szene 3 (Sternschießen auf dem Platz vor der Waldschenke) zu eröffnen, blieb dem Textdichter ein ewiges Ärgernis. In allen von ihm veranlassten Librettoausgaben (Leipzig: Göschen, 1821 bis 1843 bzw. Grimma: Göschen-Beyer, 1827) ließ er die nicht vertonten Anfangsszenen mit abdrucken. Ein Duett von Agathe und Eremit aus der ursprünglichen 2. Szene hatte er unter dem Titel „Die geweihten Rosen“ sogar vorab im Taschenbuch Penelope veröffentlicht. An Heinrich Blümner schrieb Kind im Dezember 1837, sollte er jemals gebeten werden, den Freischütz „in Scene [zu] setzen“, so müsse seiner Dichtung zunächst „der abgeschnittene Kopf […] wieder aufgesetzt werden“. Tatsächlich wertet die Rahmenhandlung die Rolle des Eremiten im Kampf gegen Samiel bedeutend auf, und so hatte Kinds literarisch ausgewogenere (aber hinsichtlich des Beginns weniger dramatische) Anlage des Stücks durchaus Befürworter wie Friedrich de la Motte Fouqué, der 1822 eine entsprechende Betrachtung publizierte. Laut Erinnerungen von Julius Benedict witzelte auch E. T. A. Hoffmann nach der Berliner Uraufführung der Oper über den „aus den Wolken gefallenen Eremiten“. In der vertonten Form ist der Eremit tatsächlich zu einem „deus ex machina“ degradiert, dessen Auftauchen im Finale zwar durch die Vorgeschichte motiviert, aber szenisch nur durch wenige Anspielungen im Dialog sowie bildlich durch die geweihten Rosen der Agathe vorbereitet ist. Tatsächlich gab es mehrfach Versuche, dem entgegen zu wirken und Kinds Eröffnungsszenen auf die Bühne zu bringen. Hin und wieder erscheinen sie in einzelnen Inszenierungen der Oper als gesprochenes Vorspiel, freilich nur ein Notbehelf. Aber auch musikalische Ergänzungen sind bezeugt, eine erste schon für das Jahr 1835: Waldemar Weber berichtete 1936 in der Geraer Zeitung (Sonderdruck Dezember, S. 19‒24) von einer Auftrittsarie des Eremiten („Allerbarmer“) und einem „Wechselgesang“ (Duett Eremit/Agathe „Nimm hin des Freundes Gabe“) „aus dem Vorspiel zu der Oper: Der Freischütz“, komponiert von P. J. Fournes, die allerdings vermutlich nie aufgeführt wurde. Eine weitere Musikalisierung des Kind’schen Beginns lieferte Oscar Möricke 1893 für die Lübecker Einstudierung (Premiere 3. November), die Carl Stiehl in den Lübeckischen Anzeigen eigens ankündigte, aber in seiner Besprechung als „nicht sonderlich überzeugen[d]“ beurteilte, während man in der Neuen Zeitschrift für Musik liest, diese Komplettierung sei „mit entschiedenem Glücke“ erfolgt (im selben Artikel ist zudem von einer zusätzlichen entsprechenden älteren Partitur mit den Eingangsszenen im Besitz von Carl Friedrich Wittmann die Rede). Aus jüngerer Zeit gehören auch die musikalischen Ergänzungen durch René Jacobs für seine Einspielung der Oper bei harmonia mundi (HMM 902700.01) in diesen Kontext; er versuchte, basierend auf musikalischem Material Webers und einer Opernnummer Schuberts, eine Rekonstruktion, die allerdings dem Vergleich mit Webers Originalkompositionen nicht standhalten kann. Carl Maria von Weber sah offenbar schon sehr früh ein aufführungspraktisches Problem: Die der Rolle anvertrauten gerade 58 solistischen Takte (plus 73 Takte im Ensemble) ließen zu Lebzeiten des Komponisten kaum eine Besetzung mit einem erstklassigen Sänger zu. Die Rolle des ersten Bassisten war jene des Kaspar, die des zweiten Bassisten jene des Kuno. Viele kleinere Theater verfügten in ihrem Personal aber nur über zwei ausgewiesene Bassisten, insofern war absehbar, dass die als „undankbar“ geltende Partie des Eremiten vielfach mit einem singenden Schauspieler besetzt und damit angesichts der mangelnden sängerischen Befähigung die dramaturgische Gewichtung der Rolle zusätzlich untergraben würde. Weber, dem daran gelegen war, dass der jeweilige Interpret „wegen Vorzügen seiner Stimme, den Eremiten würdig darstellen“ könne, war Theaterpraktiker genug vorauszusehen, dass ein solcher Wunsch, wenn überhaupt, dann nur an größeren Häusern realistisch umsetzbar wäre, und brachte daher eine weitere musikalische Reduzierung ins Spiel. Laut Tagebuch bezahlte Weber am 31. Juli 1821 für zwei Bühnen, die schon länger über eine Partiturkopie der Oper verfügten (Braunschweig und Hamburg), Kopien der nachkomponierten Romanze und Arie Nr. 13 des Ännchen (der Versand der Kopien erfolgte laut Tagebuch erst am 24. Oktober 1821). Dabei ergänzte er – so ist es im Falle der überlieferten Braunschweiger Partitur (D-W, Cod. Guelf. 258c Mus. Hdschr. 1–3) verbürgt und auch für Hamburg angesichts des Briefes an den dortigen Theaterdirektor F. L. Schmidt vom 24. Oktober 1821 gesichert – eine Notiz zur Kürzung des Finales Nr. 16 um 22 Takte (T. 231–252), wodurch die Solotakte des Sängers von 58 auf 37 beschnitten wurden (Passage „Leicht kann des Frommen Herz auch wanken“ bis „Wer griff in seinen Busen nicht?“ Wann genau diese Kürzung vorgenommen wurde, bleibt unklar, vermutlich bereits während der ersten Aufführungen in Berlin, denn laut Jähns befand sich auch in der Berliner Uraufführungspartitur ein entsprechender nachträglicher Eingriff von Webers Hand. Das gedruckte Textbuch zur Uraufführung am 18. Juni 1821 enthält die fraglichen Zeilen allerdings noch, und auch in dem im November 1821 erschienenen gedruckten Klavierauszug blieben die Takte unangetastet. In mehreren der ab Oktober 1821 von Weber versandten Partiturkopien der Oper wurden die Takte jedenfalls nicht mehr abgeschrieben, das Finale also von vornherein in gekürzter Form übernommen; durch überlieferte Quellen oder anderweitige Hinweise ist dies z. B. gesichert für die Abschriften, die von Weber nach München (Versand 30. Oktober 1821), Mannheim (Versand 6. November 1821), Dresden (bezahlt am 13. November 1821), Königsberg (Versand 23. November 1821), Danzig (Versand 30. November 1821), Frankfurt/Main (Versand 18. Dezember 1821) und Kassel (Versand 27. Dezember 1821) geschickt wurden. Ab 1822 scheint dies – das legen jedenfalls die überlieferten authentischen Partiturkopien nahe – Standard gewesen zu sein. Selbst in seinem Handexemplar des Freischütz-Textes nahm Weber die Änderung vor (erstaunlicherweise allerdings nicht in seinem Partiturautograph). Ein besonders rigider Schnitt erfolgte in Wien, wo der Freischütz am Kärntnertortheater seine zweite Einstudierung erlebte (Premiere 3. November 1821): Dort tilgte die Zensur die Figuren des Samiel und des Eremiten gänzlich. Im Gesellschafter vom 5. Januar 1822 liest man: „ein Eremit darf keine Gemeinschaft mit Schauspielern haben; darum wird Agathe ohne ihn gerettet“. Von den Solotakten des Eremiten blieben nur einige wenige erhalten, die aber mit entsprechend angepasstem Text dem Sänger des Ottokar (in der Wiener Fassung: Ritter Hugo von Weidenhorst) zugewiesen wurden. Diese Zensurfassung blieb auch bei den weiteren Wiener Einstudierungen zu Webers Lebzeiten (Premieren: Theater an der Wien 5. Juni 1822, Theater in der Josefstadt 20. August 1825) in Kraft, erst die Neueinstudierung im Kärntnertortheater von 1829 (Premiere: 17. Januar) wurde „nach dem Original“ eingerichtet. Der erste Wiener Eremit (auf dem Theaterzettel als „Klausner“ bezeichnet) war der junge Joseph Staudigl. Die Wiener Zensurentscheidungen waren üblicherweise richtungsweisend für die weiteren Bühnen der k. & k. Monarchie, allerdings hatten die örtlichen Zensurbehörden eine gewisse Entscheidungsfreiheit, so dass die Rollen-Tilgung nicht für alle kaiserlichen Lande gleichermaßen Gültigkeit hatte, sonst wäre der Prager Eremiten-Auftritt, der Weber so „schauderhaft“ erschien (vgl. Anm. 9), nicht zustande gekommen. In Lemberg wurde sogar 1823 schon die Wiedereinführung der eröffnenden Eremiten-Szenen diskutiert. Die Pester Premierenkritik in der Wiener Theaterzeitung vom 25. Mai 1822 deutet mit ihrem Hinweis „man folgte hier der Berliner-Aufführung“ darauf hin, dass auch dort die Wiener Zensurfassung zunächst nicht benutzt wurde, was ebenso die Erwähnung des „Fürsten“ bestätigt (aus Ottokar war demnach in der Pester Einstudierung kein Ritter Hugo geworden). Friedrich Wilhelm Jähns, der den Umstand der von Weber selbst angeregten Kürzung der Eremitenpartie in seinem Weber-Werkverzeichnis von 1871 nicht beschrieben hatte, scheint im September 1878 auf die Problematik aufmerksam geworden zu sein. Er plante daraufhin für die (unpubliziert gebliebenen) Werkverzeichnis-Nachträge eine entsprechende Ergänzung und wandte sich daher ab Oktober im Zusammenhang mit seinen Ermittlungen zur Aufführungsstatistik der Bühnenwerke Webers an zahlreiche Korrespondenten. Laut Brief an Robert Musiol hatte er am 31. Oktober bereits 20 entsprechende Anfragen versandt, im Brief vom 30. November spricht er sogar von 27 Anfragen und bislang 23 erhaltenen Antworten. Eine dieser Antworten, jene vom Budapester Kapellmeister Julius Káldy vom 15. November, erschien Jähns „gradezu verwirrend“ und brachte zunächst „grausige Confusion“, beschrieb Káldy doch in der ihm vorliegenden handschriftlichen Partitur des ungarischen Nationaltheaters in Pest eine Passage von 12 Takten h-Moll im Finale, tonartlich unpassend zum Original. Klärung brachte erst Káldys Brief vom 16. Dezember, dem Kopien zweier Passagen des Finales beilagen, die nicht mit der Originalpartitur übereinstimmten und die auch gar nicht genau die Jähns interessierende Passage des Finales (T. 231–252) betrafen. Jähns war sich bald sicher: Es handelte sich bei beiden Abweichungen um nachträgliche Einfügungen eines unbekannten Bearbeiters, oder wie er es im Brief an Musiol vom 15. Februar 1879 formulierte, um eine „durch jene handwerksmäßigen Zusätze verunzierte Partitur“. Káldy, der die ersten Mitteilungen von Jähns möglicherweise missverstanden (oder zumindest falsch interpretiert) hatte, ging davon aus, dass mindestens eine der in der Budapester Freischütz-Partitur von ihm aufgefundenen bislang unbekannten Passagen von Weber stammen musste. Voller Entdeckerfreude besprach er seinen vermeintlichen Weber-Fund mit befreundeten Musikern, so dass dieser schnell (allerdings ohne Zutun Káldys) publik wurde. Anfang Januar 1879 liest man beispielsweise im Pester Lloyd auf der ersten Seite der Abendausgabe: „(Kapellmeister Káldy) hatte dem Prof. Jaehns, dem Biographen Karl Maria Weber’s, einige bisher unbekannte Partien aus der Oper ‚Der Freischütz‘ zugesandt. In Erwiderung dessen richtete nun Professor Jaehns ein Schreiben an Káldy, in welchem er bestätigt, daß die vollständigste Partitur des ‚Freischütz‘ sich im Besitze unseres National-Theaters befinde, welche K. M. Weber, nach seinem eigenen Tagebuch, am 10. Dezember 1821 selbst nach Budapest sandte. Es ist dies eine Entdeckung, welche unseren Musikfreunden nur zur Freude gereichen kann.“ Diese Falschmeldung, die sich schnell auch in die internationale Presse verbreitete, sorgte für einiges Aufsehen, vor allem aber für Entrüstung bei Jähns, der Káldy umgehend (spätestens Mitte Februar) eine Berichtigung zusandte. Eine inhaltlich korrespondierende (keinesfalls aber identische) „Berichtigung“ vom 22. Februar 1879 übermittelte Jähns dann verschiedenen in- und ausländischen Zeitschriften und Zeitungen; sie wurde – redaktionell mehr oder weniger bearbeitet, teils im Originalwortlaut, teils auch nur inhaltlich paraphrasiert – zwischen Ende Februar und Anfang April 1879 vielfach gedruckt. Noch bevor Káldy informiert war, liest man bereits am 14. Februar 1879 (bezugnehmend auf zuvor gemeldete Entdeckungen von Werken Bachs und Beethovens) in der Allgemeinen Deutschen Musik-Zeitung: „die Welt hat sich kaum von ihrem Staunen erholt, da berichten Fremdenblatt und Echo von einer Freischütz-Partitur, welche in Pest versunken und vergessen lag. Natürlich ist diese die allerrichtigste und allervollständigste. Nun schreibt uns Jemand, das gerade Gegentheil wäre der Fall, die Pester Freischütz-Partitur sei die entstellteste. Die schönen Findelkinder sind in Wirklichkeit garstige Wechselbälge, von gewissenlosen und wissensfreien Reportern untergeschoben. Das Papier ist halt geduldig!“ Der erwähnte „Jemand“ dürfte wohl Jähns gewesen sein, der sich in seiner namentlich gezeichneten „Berichtigung“ deutlich moderater äußerte, wenn auch in der Sache eindeutig: „Die dem ungarischen National-Theater zu Pest gehörige Partitur enthält im Finale des 3. Akts, neben wesentlichen und umfassenden Weglassungen, [… Passagen], von denen die eine zweifellos nicht von Weber herrührt, die andere in hohem Grade zweifelhaft für Weber’s Autorschaft und nichts als ein Nothbehelf ist, den Eremiten ganz zu sparen.“ Außerdem machte Jähns auf eine Verwechslung Káldys aufmerksam: Das ungarische Nationaltheater in Pest, dem die Partitur gehöre, wäre erst 1838 [recte: 1837] gegründet worden, während Weber seine Partiturkopie 1821 an das dortige deutsche Theater gesandt hatte, das seinen Betrieb als Stadttheater 1866 eingestellt habe, worauf dessen Theaterbibliothek (und damit wohl auch die verschollene authentische Freischütz-Partitur) versteigert worden wäre. Außerdem betonte Jähns: „Maasgebend bleibt unter allen Umständen die von Weber eigenhändig niedergeschriebene Original-Partitur […], welche die Wittwe des Meisters Sr. Majestät dem Könige von Preussen i. J. 1851 zum Geschenk gemacht und von diesem darauf der Königlichen Bibliothek in Berlin überwiesen wurde.“