Neue Jähns-Briefe aufgetaucht
Die Berliner Staatsbibliothek verfügt über große Teile der Korrespondenz des Weber-Forschers Friedrich Wilhelm Jähns. In dessen Sammlung Weberiana und seinem Nachlass, welche 1881 bzw. 1889 in den Besitz der Bibliothek kamen, fand sich eine vierstellige Zahl von Schreiben, die alle auf der Homepage der Weber-Gesamtausgabe erschlossen sind, überwiegend als Katalogisate mit Inhaltsbeschreibungen, vielfach aber auch mit kompletten, kommentierten Textübertragungen. Angesichts der Provenienz erstaunt es freilich nicht, dass in Berlin überwiegend Briefe an Jähns verwahrt werden; Briefe von ihm sind in der Minderzahl. Um so erfreulicher ist jeder Neufund!
Aus Privatbesitz wurden der Staatsbibliothek im Sommer 2018 nun zehn bislang unbekannte Briefe von Jähns aus den Jahren 1864 bis 1886 angeboten, allesamt an den Pianisten und Komponisten Ernst Rudorff gerichtet – eine willkommene Bestandsergänzung, fanden sich in den Berliner Sammlungen doch bereits neun Schreiben von Rudorff an Jähns aus dem Zeitraum 1864 bis 1877 (Weberiana Cl. X, Nr. 538 bis 544 sowie Mus. ep. E. Rudorff 117 und 118), und so überlegte die Direktorin der Musikabteilung Dr. Martina Rebmann auch nicht lange und erwarb die kleine Kollektion (neue Signaturen: 55 Ep 1899 bis 1908). Auch wenn der Briefwechsel Jähns–Rudorff damit längst nicht komplett ist, sind die thematischen Überschneidungen zwischen den bereits länger bekannten und den neu hinzugekommenen Dokumenten recht groß: Neben privaten Themen und dem Austausch über Kompositionen von Jähns steht das beiderseitige Interesse an Weber im Mittelpunkt, vor allem aber Rudorffs Partitur-Ausgaben von Euryanthe (1866) und Preciosa (1878) beim Berliner Verlag Schlesinger. Besonders inhaltsreich ist der früheste überlieferte Brief von Jähns an Rudorff vom 2. Oktober 1864 mit grundsätzlichen Überlegungen zur (damals) zeitgenössischen Bewertung und Wirkung von Webers Kompositionen.
Auch wenn Jähns seinen mehr als 30 Jahre jüngeren Musikerkollegen in den Briefen als “verehrter” oder “theurer Freund” anspricht, scheint die persönliche Beziehung doch schon wegen des Altersunterschieds zumindest zu Beginn nicht allzu eng gewesen zu sein. Besonders in Rudorffs Briefen ist anfangs eine gewisse Distanz spürbar. In seiner Autobiographie wird er deutlicher; dort schrieb er in Zusammenhang mit den Planungen zu seiner Euryanthe-Edition im Jahr 1864:1 “Friedrich Wilhelm Jähns war damals in den musikalischen Kreisen Berlins als Weber-Verehrer von Profession bekannt. Er leitete einen kleinen Gesangverein, mit dem er hie und da eine bescheidene Aufführung zustande brachte, gab Gesangunterricht, ließ Webersche Lieder singen und schwärmte den Leuten von Weber vor. Als Lehrer wie als Dirigent und gar als Komponist kam er nicht über liebenswürdigen Dilettantismus hinaus, und so belächelte man seinen anscheinend unfruchtbaren Enthusiasmus.”
Mit dieser Einschätzung stand Rudorff nicht alleine; ähnliche Urteile sind auch von Paul Mendelssohn-Bartholdy und Julius Rietz bekannt. Erst später sollte sich Rudorff revidieren, wie wiederum seiner Autobiographie zu entnehmen ist:2 “Allein, man hatte ihn doch unterschätzt. Das trat zutage, als er gegen Ende seines Lebens sein großes verdienstvolles Werk, das chronologisch-thematische Verzeichnis sämtlicher Weberscher Kompositionen, herausgab.”
Tatsächlich verwendete Rudorff in seinen Briefen nach Erscheinen des Weber-Werkverzeichnisses (1871) nun ebenfalls die Anrede “Hochverehrter Freund”.
Jähns dürfte 1864 dem vierundzwanzigjährigen Rudorff freundlich entgegengekommen sein, hatte er ihn doch bereits als Knaben um 1850 im Haus der Eltern kennengelernt, als er dort die Bach-Autographen aus dem Nachlass Wilhelm Friedemann Bachs studieren durfte3, die Rudorffs Großvater Carl Pistor einst auf einer Berliner Auktion erworben hatte und die nach seinem Tod (1847) in den Besitz von Rudorffs Eltern, Adolf und Betty Rudorff, geb. Pistor, übergegangen waren. Zudem war Ernst Rudorff das Patenkind von Marie Hoffmeister, die als älteste Tochter Hinrich Lichtensteins4, eines der engsten Freunde Webers, wiederum dessen Patenkind war. Sie hatte als Rudorffs erste Klavierlehrerin sicherlich das Interesse an Weber, das bereits seine Eltern geweckt hatten, nach Kräften befördert, und so ist es nicht verwunderlich, mit welch schwärmerischer Begeisterung er schon in seiner Leipziger Studentenzeit über Webers Musik, speziell über die Euryanthe, sprach. Bereits als Zwanzigjähriger hatte er seinen Kommilitonen bis in die Nachtstunden hinein Webers Oper am Klavier vorgespielt5, und später verübelte er es Brahms, dass dieser nicht die Euryanthe, sondern die Preciosa-Schauspielmusik für Webers größte Schöpfung erachtete6.
Die Weber-Faszination einte Jähns und Rudorff und schuf eine tragfähige Basis für den persönlichen wie brieflichen Kontakt. Der schriftliche Teil des gegenseitigen Austauschs ist durch die Neuerwerbung der Staatsbibliothek, die den Briefen Rudorffs nun Gegenbriefe von Jähns an die Seite stellt, zumindest in seinen Grundzügen wieder nachvollziehbar.
Endnotes
- 1Ernst Rudorff, Aus den Tagen der Romantik. Bildnis einer deutschen Familie, hg. von Katja Schmidt-Wistoff, Bd. 2, Frankfurt am Main 2008, S. 246.
- 2Ebd., S. 246.
- 3Ebd., S. 246.
- 4Hinrich Lichtenstein war auch F. W. Jähns in väterlicher Freundschaft verbunden und Taufpate von dessen ältestem Sohn Max.
- 5Rudorff, Aus den Tagen der Romantik, S. 50.
- 6Ebd., S. 144f.
Editorial
Tradition
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