Joseph Genser to Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
Wien, Saturday, April 15, 1882

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Sehr geehrter Herr Professor!

Verzeihen Sie, daß ich gut drei Wochen verstreichen ließ, bevor ich mich an die Beantwortung Ihres geschätzten Schreibens machte, allein die Nachforschung im Hoftheater-Archiv war mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden, indem gewiße untergeordnete Organe durch Ausflüchte mir immer wieder neue Prügel zwischen die Füße warfen bis es endlich heute meiner beharrlichen Ausdauer gelang, die Freischütz-Partitur in die Hand zu bekommen.

Obwohl dieselbe nun alle Spuren des Alters an sich trägt, | so war doch aus dem äußeren Anschein derselben nicht die Uiberzeugung zu gewinnen, daß das die Partitur des Jahres 1821 oder 1822 sei. Die mir vorgelegte Partitur steht heute noch in Verwendung und die innere Unwahrscheinlichkeit ihrer Identität mit jener famosen Partitur, die Webern nach seinem Tagebuch so entsetzte*, liegt wohl darin, daß dieselbe die von Ihnen specificirten Ungeheuerlichkeiten nicht enthält.

Die Vergleichung, die ich auf Grund des Breitkopf u Härtel’schen Clavierauszuges*, der mir gerade zu Gebote stand, vornahm ergab gar keine Abweichungen u gewiße ausgestrichene oder besser gesagt | gestrichene Stellen sogenannte Kürzungen laßen eben nicht erkennen, wann sie vorgenommen wurden und ob deren Weglassung auch heute noch im Schwange ist oder nicht; einzelne weggestrichene Stellen tragen nämlich wieder die Bezeichnung „gilt

Die Partitur selbst aber, wie sie jetzt vorliegt, entspricht genau meinem Clavier-Auszuge
Auch der Text erscheint stellenweise geändert und zwar ist dieß so geschehen, daß der neue Text mit rother Tinte über den alten u durchstrichenen Text geschrieben wurde. Diese Textes-Aenderungen haben in der früheren naiv christlichen Anschauung ihren Grund, die nicht duldete, daß selbst ein Verworfener, ein mit dem Satan im Bunde Stehender | dem Himmel fluche, z. B.
Statt: [„]Du Samiel schon hier“
steht da:
Caspar Ha muß ich denn von hier
      Weh’ welche Schrecken drohen mir?
      Doch, wohl, es sei
     ich trotze dem Verderben
      dem Brautpaar (Himmel) Fluch
u weiter im Chor:
      Er hat im Tode noch (statt: dem Himmel selbst) geflucht
      Ferner heißt es dann:
Max: (statt vier Kugeln die ich heut’ verschoß)
      Ja, wahrlich meine Schuld ist groß.
      Freibolzen sind’s, die ich mit Glück verschoß
Ottokar (statt Bist du es heiliger Mann)
      Bist du es frommer Mann etc. etc.
      und –
     Sei mir gegrüßt als Richter tritt herein, dir will auch ich gehorsam sein.

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Dieß die magere Ausbeute meiner „Forschungen“. Nach dem Allen scheint die ganz alte Partitur nicht mehr vorhanden zu sein; ich habe mir deßhalb vorgenommen, gelegentlich den Herrn Archivar Pohl von der Gesellschaft der Musikfreunde in dieser Angelegenheit zu consultiren, vielleicht weiß er etwas über den Verbleib der Partitur vom Jahre 1821 u behalte ich mir daher vor, Ihnen zu schreiben, wenn ich Neues in Erfahrung bringe.

Ihre zwei Blätter Notizen schließe ich bei u empfehle mich Ihnen hochgeehrter Herr Professor mit Aller Hochachtung & Ergebenheit Jos Genser

Editorial

Summary

hat auf Bitten von J. im Hoftheaterarchiv eine hs. Partitur zum Freischütz eingesehen, die zahlreiche Striche u. Textänderungen aufweist, stellte fest, dass es nicht die EA-Partitur ist, die offensichtlich nicht mehr existiert; die eingesehene Partitur entsprach dem gedruckten Klavierauszug

Incipit

Verzeihen Sie, daß ich gut drei Wochen verstreichen ließ

Responsibilities

Übertragung
Frank Ziegler

Tradition

  • Text Source: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Shelf mark: Weberiana Cl. X, Nr. 227

    Physical Description

    • 1 DBl., 1 Bl. (5 b. S. o. Adr.)
    • am Briefkopf gestempelt: “an Jähns”

    Commentary

    • “… nach seinem Tagebuch so entsetzte”Gemeint ist Webers Entsetzen über die Zensureingriffe und die musikalische Wiedergabe bei Besuch der Wiener Aufführung des Freischütz am 19. Februar 1822, das im Tagebuch in der Notiz „O Gott“ zum Ausdruck kommt.
    • “… Breitkopf u Härtel ’schen Clavierauszuges”Freischütz-Klavierauszug von G. Rösler, erschienen bei Breitkopf und Härtel 1878 (VN: V. A. 14.).

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