## Title: Aufführungsbesprechung Wien, Kärntnertor-Theater: “Der Freischütz” von Carl Maria von Weber am 9. September 1822 ## Author: Anonymus ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A031012 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Tagebuch aus Wien.Am 8. Septbr. Heute kein Theater, lieber Leser!! – "Und Ihr könnt dennoch aushalten, ohne zu verkümmern", fragst Du? – Ganz wohl, lieber Fragegeist; wir spielen uns an solchen Tagen selbst vor! Wenn Du den Vergleich auf der beßten Seite nehmen willst, so sage ich Dir, daß diese unsere freie Comödie viel Aehnlichkeit mit dem Commitee des Sigr. Baldani Direttore, der Affen-Comödie hat, von der ich Dir unlängst schrieb. Auch in diesem theatralischen Institut ist kein Zank, außer von ungefähr; kein Rollenneid, denn jeder liest seine Rolle, wie sie in ihm geschrieben steht, ab; – da kommt keines zu spät, denn die Dosis wird jede Viertelstunde wiederholt; ja sie lassen sich sogar auslachen, und sind noch froh, wenn sich einer die Mühe nahm, über sie zu lachen. Nur in der Gardrobe herrscht eine Differenz; sie ist die conditio, sine qua non! – "Und wo spielt denn diese sonderbaren Künstlergesellschaft?" – Oeffentlich und gratis; auf unseren Spaziergängen. Um die Mittagstunde auf dem Platze: Graben, und der Straße: Kohlmarkt genannt; – Abends auf dem sogenannten Wasserglacis. Von letzerem muß ich Dir, lebensfroher Leser, doch eine kurze Schilderung geben, da es Dir minder bekannt seyn dürfte, als die weltberühmte Vormittag-Promenade. Vorm Carolinen-Thor, einem bloß für Gehende bestimmten Stadtthore, richtete, mit allerhöchster Genehmigung, der Inhaber der dortigen Wasserkur-Anstalt eine Limonaden-Hütte auf, und verwandelte diesen Morgenaufenthalt der Leberkranken und Milzsüchtigen in einen Abend-Spazierplatz der Herzkranken und Mondsüchtigen. Die ganze Gesellschaft, die sich auf dieser geräumigen Schaubühne herumtummelt, zerfällt in zwei Partheien: in die Genügsame und die Behagliche. Die Genügsamen steigen entweder in der Allee auf und nieder, um die Sitzenden, für die Vergeltung eines Gleichen, zu mustern; oder wandeln zwischen den Zelten herum; besehen sich die geschlossenen Compagnieen an den Tischen, oder horchen auf die Harmoniestücke, die oft recht unharmonisch dazwischen klingen. Die Behaglichen sitzen gemächlich auf den Bänken zu beiden Seiten der Allee und lassen die lieben Herren und Damen, beim Scheine schwebender argand'scher Lampen, vorbeidefiliren; oder vergessen, bei duftendem Tabakrauch und rauchendem Kaffeedurft, über ihr Gespräch die ganze schöne Welt. Zu diesen Behaglichen gehören größtentheils Poeten und Beamte, wovon die ersteren Schreibbares zu erdenken, die letzteren Geschriebenes zu vergessen suchen. – Diese, durch die Menge der Lustwandelnden herbeigeführte, Glacis-Verfinsterung mit ihren sichtbaren Anfang gegen 6 Uhr, – ist um 8 Uhr herum total, und nimmt von 9 Uhr an allmählig ab. Am 9. Sept. Dlle. Betty Koberwein trat zum zweiten Male auf. Sie bewährte als Emmy in der falschen Schaam abermals ihr Gefühl und ihre gute Schule. – Weber's Freischütz that heute wieder einen Meisterschuß. Mad. Seidler erbarmte sich der Agathe und Hr. Jäger des Max; des Hrn. Mosewius, als Kaspar, erbarmte sich das Publikum. – Alles ging demnach gut? – Wie man's nimmt! – Hr. Jäger sang mit großem Gefühle; – das war gut! – Herr Mosewius gab den Kaspar wie einen burschikosen Studenten; – das war nicht gut! – Mad. Seidler überlud Weber's einfache Melodieen mit Rouladen, – und das war wieder nicht gut. – Warum hat man keine Gurgel-Feger, welche die Kehlen unserer Sängerinnen immer wieder von dem Schnörkel-Russe befreien, der sich durch die Flamme des Applauses und die Wolken des Weihrauchs das Jahr hindurch angesetzt hat. – Die Administration des Theaters an der Wien liebt in ihren Leistungen den Wellengang. Die höllischen Belustigungen im Hades haben uns kaum in die Schlünde des Tartarus geschleudert; so hebt uns schon wieder ein Shakespear'sches Lustspiel zum Himmel. […]