Adolf von Henselt an Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
St. Petersburg, Montag, 26. April 1869
Settings
Show markers in text
Context
Absolute Chronology
Preceding
Following
- 1869-05-21: to Jähns
- 1869-06-02: from Wilm
Direct Context
Preceding
Following
- 1869-05-21: to Jähns
Hochzuverehrendster Herr!
ist es möglich, daß Sie zweifeln, ob ich mich Ihrer erinnere?! ich habe Ihre Existenz quasi als die eines lieben Verwandten (durch Ihre Weber-Verehrung u. Ihr Leben in diesem großen Mann) immer verfolgt, wozu übrigens mich auch außerdem Ihr damals für Ihre Gesundheit Besorgniß erregendes Äußere (Sie waren sehr groß u. schlank mit auffallender Röthe der Wangen) herausforderte. Ich erinnere mich, daß ich zu Kisting sagte „der arme Jähns scheint brustkrank zu sein“ u. K. theilte meine Meinung. Ich spreche Ihnen vom Jahre 36!! |
Gott sey Dank habe ich nachher über Sie immer gute Nachrichten gehabt daß Sie sogar stark geworden seyen u. sich der besten Gesundheit erfreuten. Nun aber zur Sache.
Leider besitze ich das von Ihnen bezeichnete Manuscript nicht. Sie müssen wohl irren! Man vergißt nicht u. besonders ich nicht, von wem ich ein Webermanuscript erhalten. Außerdem wäre für einen solchen Liebesdienst Ihrerseits mir gegenüber, doch gewiß das Mindeste gewesen, daß ich Sie in Ihrer Wohnung aufgesucht, um Ihnen zu danken u. zwischen uns eine nähere Bekanntschaft entstanden wäre. Ich habe in | meinem Leben nur 2 Manuscripte Webers besessen, welche allerdings höchst interessant sind, u. wovon ich das eine noch selbst besitze, das Andere einem Freund, Graf Pocci (Oberstkämmerer des Königs von Bayern) in München lebend, verehrte. Dieser Mann fühlt den Weber wie wir, u. deßwegen können Sie gewärtig seyn, daß wenn Sie Sich an ihn wenden, er Ihnen mit dem Seinigen eben so wie ich mit dem Meinigen, zu Diensten stehen wird. Das Meinige ist der Aufsatz des A Dur Duetts aus dem Freyschütz, blos auf 2 Notensystemen, eine Seite ausmachend /: das Papier alles von Ihm Selbst rastrirt, wie man später aus einigen Spuren wahrnehmen kann; dann noch 12 Seiten | ein geistlicher Chor „hörst Du der Klage dumpfen Schall in Deinem Grabe auch nicht mehr“ ((mit Holz- u Blech-Instrumentenbegleitung ohne Quartett) mit Recitativ etc. Das des Grafen (meines Kinder Freundes, wir lieben uns 45 Jahre) ist eine Ouverture in Es dur,* jedenfalls eine Jugendcomposition, aber schon ziemlich geschickt sehr viel fugirt‡, nur in der Erfindung seinen späteren nicht ebenbürtig, aber unverkennbar Weber. Diese ist aber im Clavier Auszug, vielleicht hat er sie gar nicht zu Orchester gebracht. Beide Manuscripte sind keine Bruchstücke, also von Anfang bis zu Ende, sogar mit dem Wort „fine“ von Ihm bezeichnet. Alles steht Ihnen zu Diensten wenn Sie es wünschen, das Meinige durch mich direct, das Andere durch meine Vermittelung oder wenn Sie an Pocci schreiben u. auf mich berufen wollen; er wird eben so gern bereit sein, Ihr Werk | zu fördern wie ich. Wollen Sie mir nur sagen ob Sie warten können, bis ich es Ihnen selbst bringe; ich hoffe Ende Juni nach Berlin zu kommen, sonst kann ich es Ihnen auch durch die Russische Gesandtschaft zu schicken. Jetzt bleibt mir nur noch übrig Sie um Verzeihung zu bitten wegen der Verspätung meiner Antwort; ich kam eben aus Moskau, wohin man mir Ihren verehrten Brief nicht nachsandte indem ich jeden Tag zurück erwartet wurde.
Indem ich Ihnen hier mit noch mein Vergnügen u | meinen Dank über diese Ihre Annäherung ausspreche, verbleibe ich in der ausgezeichnetsten Hochachtung Ihr ganz gehorsamster Diener
Adolph Henselt
St Petersburg
den 26ten Apr
1869
P. S. ich habe nicht die Zeit meinen Brief nochmal durchzulesen, u bitte daher um Vergebung für Alles.
2tes P. S. nach nochmaligem Lesen Ihres verehrten Briefes. Vielleicht irr ich mich in Pocci’s Manuscript! vielleicht ist es grade dieß was Sie wünschen, weil es für Piano allein /: u insoferne Ihrer Anforderung entsprechend :/ daß das Stück aber in Es dur ist weiß ich bestimmt, u daraus können Sie vielleicht wissen, ob Ihnen gedient werden kann! Daß in meiner Erinnerung der Fugirte Satz als so geschickt gemacht fortlebt, spricht auch dafür daß die Composition von Cherubini sein könte, u von Weber blos übertragen worden wäre. ich will wünschen daß Ihnen gedient werden könnte. Aber dann bliebe immer auf mir lastend, daß ich das [habe] vergessen können, daß ich das Manuscript von Ihnen erhalten habe!
Sehr begierig bin ich auf die Aufklärung alles dessen. — Darf ich Sie bitten um Ihren Rath, wie es eine nicht sehr bemittelte Dame von hier, anzufangen hat u. wohin an welche Quelle [sie sich] zu wenden hat, um sich in Berlin in der Gesangkunst auszubilden?!
Editorial
Summary
teilt mit, dass er nur zwei Autographe von Weber besessen hat, eins davon hat er an den Grafen Pocci verschenkt, eins besitzt er noch
Incipit
“ist es möglich daß Sie zweifeln, ob ich mich Ihrer erinnere?”
Responsibilities
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit