## Title: “Grundregeln der Harmonie” von Johann Gottfried Schicht ## Author: Gottfried Weber ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A031317 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Grundregeln der Harmonie, nach dem Verwechselungssystem entworfen und mit Beyspielen erläutert von J. G. Schicht. Leipzig bey Breitkopf und Härtel. 17 Bogen in Folio. Preis 2 Rthlr.Herr Schicht, als Vorsteher einer trefflichen musikalischen Bildungsanstalt in Leipzig sehr rühmlich bekannt, und Verfasser mehrerer auszeichnungswerthen Compositionen, tritt nun auch als belehrender Schriftsteller auf. Er überschreibt sein Werk als Grundregeln der Harmonie, eine Beziehung, wodurch er (wenn wir anders von dem, was er geliefert hat, auf das, was er zu liefern die Absicht hatte, schließen dürfen) schon in voraus andeuten wollte, daß sein Buch keineswegs ein vollständiges oder gar neues System der Harmonie, noch eine Abhandlung der ganzen Kunst des reinen Satzes, oder gar der Compositionslehre im vollen Umfange des Wortes seyn solle, sondern bloß ein nach des Verfassers Ansichten und Ueberzeugungen zusammengestellter Entwurf der Anfangsgründe, der Grundlage der ganzen Compositionslehre. Ja nicht einmal auf eine vollständige und ausführliche Abhandlung der Anfangsgründe in ihrer ganzen Allgemeinheit scheint die Tendenz des Verf. gerichtet gewesen zu seyn, er scheint vielmehr hauptsächlich die ausführliche, aber auch höchst ausführliche Ausbildung eines individuellen Hauptstücks in den Grundregeln der Harmonie, das von der Accordenlehre, und selbst aus dieser das Fach der Accordeverwechselungslehre, zu seinem eigentlichen und Hauptzwecke gemacht zu haben: er wollte hauptsächlich den Anfänger in den Stand setzen helfen, die verschiedenen gleichzeitigen Tonverbindungen, welche vorkommen können, in welcher Lage und Verwechselung sie auch vorkommen mögen, zu erkennen, und auf ihre einfachen Grundharmonieen zurückzuführen. Daher denn das flüchtige hinwegeilen, daher die an Unvollständigkeit gränzende Kürze der Abhandlungen über andere Kapitel, welche der Rec. in der allgem. Musikal. Zeitung dem Verf., unsers Ermessens, zu strenge zum Vorwurfe macht, ohne Zweifel, weil er gleich Anfangs dem Werke den Zweck unterschiebt: „zur Erweiterung und kühnern Bearbeitung des harmonischen Gebietes – zu einer genauern Grenzberichtigung – und Sichtung“zu führen, ein Masstab, bey dessen Anlegung das Werk freylich zu kurz kommen muß, welches der Verfasser dazu gar nicht bestimmt hatte, der nur unmittelbar praktisch nützlich seyn zu wollen in der Vorrede selbst erklärt, der nur die Hauptabsicht hatte, den angehenden Tonsetzer mit allen Labyrinthen der Intervallenverwechselungen vertraut zu machen, nicht aber auch ein vollständiges Lehrbuch der ganzen Harmonik zu geben, und eben diese Bemerkung, verbunden mit dem Umstande, daß Herr Schicht sein Buch bloß zum Gebrauche neben mündlichem Unterricht, nicht als Buch zum Selbstunterricht unvorbereiteter Anfänger giebt; eben dies muß auch als Entschuldigung der nicht eben strengen systematischen Ordnung des Vortrages gelten, wie wenn z. B. im 5ten Paragraphen, um die Begriffe von Wechsel- und durchgehenden Noten zu erklären, die Kunstworte: guter und schlechter Takttheil, und: dissoniren, gebraucht werden, indeß noch nirgends erklärt worden, was con- und dissoniren sey, und erst im folgenden §. 6 gesagt wird, der wievielte Takttheil der schlechte und gute zu seyn pflege, nirgends aber was guter und schlechter Takttheil sey u. s. w. Ohne diese Nebenseiten mit allzugroßer Strenge zu censiren, glauben wir vielmehr das Werk aus dem Standpunkte seiner Haupttendenz auffassen und beurtheilen zu müssen, und aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, kann denn ein Unternehmen der Art, wie das vorliegende, nicht anders als verdienstlich, und ein Buch, welches, ohne Vorgänger in seiner Gattung gehabt zu haben, diese Tendenz wie das gegenwärtige erfüllt, nicht anders als mit Dank aufzunehmen seyn. Der Verf. hat sich der mühevollen Arbeit unterzogen: alle brauchbaren Dreyklänge, Septimenaccorde und sämmtliche zufällig dissonirenden Accorde in den verschiedenartigsten Lagen und Umkehrungen darzustellen, erst elementarisch, und dann in zusammenhängenden Exempeln praktisch verbunden, um den Anfänger zur Auffindung der Grundharmonieen aller dieser verschiedenartigen Accorde zu führen. Er behandelt also hier ein Fach, welchem bis jetzt noch keine eigne Behandlung in einem ganzen Werke zu Theil geworden war, und füllt auf diese Art eine Lücke in der musikalischen Litteratur aus: es ist gleichsam eine raisonnirende Tabelle aller möglichen gleichzeitigen Tonverbindungen, ist vollständig, und als solche schon unbedingt nützlich für jeden, der eines Leitfadens dieser Art bedarf. Eine Inhaltsanzeige, welche dem Buche selbst fehlt, wird die so eben aufgestellte Charakteristik des Werkes rechtfertigen: Nachdem der Verfasser in einem einzigen Abschnitte von den allgemeinen Principien von Tonleitern, Intervallen, Tonarten, Nebennoten, Tacttheilen, Con- und Dissonanzen dasjenige voranschickt, was ihm zu seinem Zweck dienlich schien, beschäftigt er sich durch die vier folgenden Abschnitte mit Darstellung der Accorde und ihrer Verwechselungen, und zwar im IIten Abschnitt mit den Dreyklängen und ihren Verwechselungen, im IIIten mit den Septimenaccorden und deren Verwechselungen, im IVten mit den mit Vorhalten versehenen Dreyklängen in allen Lagen und Verwechselungen, und im Vten mit allen Lagen der durch einen oder mehrere Vorhalte entstellten Septimenharmonieen. Der VIte kurze und letzte Abschnitt enthält und trägt noch verschiedene allgemeine Bemerkungen über das bisherige nach. In dieser Inhaltsvertheilung spricht sich denn die specielle Tendenz des Werkes unzweydeutig aus, und sind wir daher auch gleich mit dem Verfasser über manche seiner Lehrsätze nicht einverstanden, so glauben wir doch darum unsere Ueberzeugung nicht über die seinige setzen zu müssen, am wenigsten dann, wenn solche Lehrsätze nicht zunächst in die Verwechselungslehre, der allein es hier ex professo gilt, eingreifen: überdies ist eine beurtheilende Anzeige eines Werkes nicht der Ort, über Lehrsätze zu polemisiren. Wir dürfen es daher nicht als Fehler rügen, daß der Verf. nicht weniger als acht Dreyklänge und zehen Septimenaccorde als Grundstammaccorde annimmt, indeß es nach unserer Ueberzeugung nur drey Dreyklänge und vier Septimenaccorde bedarf, um – nach dem einfachen Kirnbergerschen Durchgangs- und Vorhaltssystem – alle möglichen Harmonieen darauf zurückführen und daraus erklären, oder wenn sie sich darauf nicht zurückbringen lassen, kühn als schlecht verwerfen zu können. – So braucht man, unsers Ermessens, keinen eigenen Schicht erklärt in § 37 (S. 29) den Quart-Quintenakkord (Bsp.: c–g–g1–f2) als Undecimenakkord (Bsp.: c–g1–c2–f2) mit Verdoppelung der Quinte statt des Grundtons.Undecimenaccord anzunehmen, um den Quartquintenaccord, keinen Terzdecimen- Undecimen- Nonenseptimenaccord um den sogenannten dissonirenden Sexten- oder Quartsextenaccord erklären zu können; so kommt es uns zwar vorzüglich auf die Aufstellung von Dreyklängen an, deren Grundnote die Hauptdissonanz ist (§. 19 u. 20). So können wir es nicht unterschreiben, wenn es im §. 4 von den Tonarten heißt: „Will man nun gewiß seyn, ob ein Tonstück Dur oder Moll sey, so besehe man nächst der Vorzeichnung die erste und letzte Baßnote eines Stückes;“ noch theilen wir die freylich gemeingültige Meynung (§. 2.), daß die 6te und 7te Stufe der Molltonleiter aufwärts groß, abwärts klein seyen (von welchem allen wir das Gegentheil schon in Nr. 66 u. 67 des vorigen Jahrgangs dieser Blätter in Beyspielen aus der täglichen Erfahrung gezeigt haben). Wir glauben es nicht, was §. 13. gelehrt wird: „zu dem Septimenaccord A c e g ist die Unterterzie F die Grundbaßnote.“ Alle Tonlehrer in der Welt, und mit ihnen der Verf. selbst (§. 22.), erkennen einen Grundstammaccord, bestehend aus Grundton, kleiner Terz, reiner Quinte und kleiner Septime, wie A c e g, und nur in den seltensten Fällen wird eine solche Tonverbindung etwas anders seyn als eben dieser Stammaccord, und erst auf einen Stammaccord zurückgeführt zu werden brauchen. Wir halten es für unnöthige Erschwerung so einfacher Sätze, wie 9 6C Eweit hergeholt als Ellipsen zu erklären (§. 31.) – übertrieben strenge Sätze, wie g e a hC B oder, D G als verdeckte Quinten- und Octavenfortschreitungen zu mißbilligen (§. 9.) und den freyen Eintritt der wesentlichen Septime z. B. in 63 5 3C H Ceine Licenz zu nennen (§. 89.). So wenig aber in diesen und andern ähnlichen Stücken des Verfassers Meynungen die unsrigen sind, so wollen wir doch nicht behaupten, daß das Werk im Ganzen darin seine Brauchbarkeit zu dem Zwecke, den wir oben als den wesentlichsten erkannt und bezeichnet haben, verliere. Diese Brauchbarkeit erhöhet sich noch durch manche eingeflochtene nützliche Bemerkung, durch Empfehlung der brauchbarsten unter so manchen verschiedenen Lagen dieses oder jenes Accordes, z. B. §. 18. 19. 20. Durch die belehrenden Notenbeyspiele, welche den Accord, welchen der Verf. behandelt, nicht blos als isolirtes Skelett darstellen, sondern als lebendes und mitwirkendes Glied in die Kette eines zusammenhängenden musikalischen Perioden oder Stückes praktisch anschauen lassen; – durch Merkmale von musikalischer Aufklärung (ein Ausdruck, welcher wohl passen mag für eine Lehre, worin, wie in der Harmonielehre, noch so viel Köhlerglaube herrscht). So erlaubt z. B. Herr Schicht, wie auch wir schon am oben angeführten Orte gethan, die wesentliche Septime als Vorbereitungsnote zu einer folgenden andern Dissonanz zu gebrauchen; z. B. 6 ⌒ 5 – 5 ⌒ 4 3 H | C –was seit undenklichen Zeiten die besten Componisten thaten, indeß in den Lehrbüchern doch beynahe ohne Ausnahme noch der alte mißverstandne Lehrsatz sich forterbte; „Vorbereitung ist das schon Dagewesenseyn der dissonirenden Note in der vorhergehenden Harmonie als Consonanz.“ Ebenso möchten wir es eher billigen, als, wie der Rec. in der allgem. musik. Zeitung thut, tadeln, daß Herr Schicht die Schöpfung der harten Tonleiter von der Dominante ausgehen läßt, statt von der Tomka; schon aus dem Einen Grunde, weil durch die harmonische Theilung einer z. B. in C gestimmten Saite nie das zur C Tonleiter unentbehrliche H, sondern immer nur B erscheint, und nur eine in G gestimmte Saite in der harmonischen Theilung die der Tonart C eigenthümlichen Töne erklingen läßt (daher ist die sogenannte C-Trompete im Grunde eigentlich eine F-Trompete). Auf diesem Wege (den freylich nur wenige Tonlehrer bis jetzt gewählt) gelingt der Versuch, die ganze Harmonie aus den harmonischen Quoten oder Beytönen einer Saite (aus den natürlichen Tönen der Blechinstrumente) zu deriviren, wenigstens zur Hälfte, soviel nämlich die harte Tonleiter den harten Dreyklang und die harte Tonart betrifft, indeß die harmonischen Beytöne oder Quoten der tonischen Saite nicht nur ebenfalls keinen weichen Dreyklang, sondern auch nicht einmal die ihre eigne Tonleiter constituirenden Töne ausmachen, sondern statt des unentbehrlichen subsemitonium ihrer Octave ihre kleine Septime enthalten, welche die hervorgebrachte Tonreihe zur Tonleiter der Unterdominante stempelt. Auch die Schönheit und Correctheit der Auflage ist ein empfehlender Vorzug des Werkes. Gottfried Weber.