## Title: Aufführungsbesprechung: “Joseph” von Etienne Nicolas Méhul am 1. September 1811 in Mannheim ## Author: Gottfried Weber ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A030777 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Mannheim, den 2. September. – Mehüls Oper: Joseph, deren Verspätung auf der hiesigen Bühne Ref. schon mehrmals rügte, ist uns endlich gestern zu Theil geworden, unter dem Titel: Jacob und seine Söhne in Egypten, musikalisches Drama in zwey Aufzügen. Das Süjet des Stückes, vom dem in Frankreich sehr geschätzten dramatischen Schriftsteller Duval, ist die bekannte biblische Geschichte, und an sich doch zu arm und einförmig, um einen Abend zu füllen. Darum wird denn der Gang der Handlung oft fühlbar schleppend, besonders im zweiten Akt, und müßte durch allseitig recht rasch eingreifendes Spiel gehoben werden: nur dadurch war es möglich, daß das Werk bey Franzosen furor erregte. Besonders ist dies eine leere nichts sagende Aufhaltung der Handlung, recht nur um das Stück noch in etwas zu verlängern, daß Utobal zuletzt noch einmal erscheinen muß, um die allgemeine Freude mit der Nachricht von des Volkes neidischer Wuth und dem Unwillen des Königs zu unterbrechen. Wozu dies noch? am Ende des letzten Aktes, nachdem man schon lange genug erwartet hatte, daß endlich einmal die Erkennungs-Szene vor sich gehe, und das Stück zu Ende. – Doch genug hievon, und vielleicht schon zu viel, für viele welche gewohnt sind, nach dem Süjet einer Oper nichts zu fragen, und es blos als eine Schnur zu betrachten, um die Perlen der Musik daran zu fädeln. Mehüls Composition ist weniger glänzend als empfindsam, er will hier mehr rühren als eben ergreifen, mehr ansprechen als spannen und erschüttern; die ganze Musik trägt daher einen Anstrich von Kunstlosigkeit, welcher oft sogar an der Grenze von Monotonie hart anstreift. Einige Lieblingswendungen des Componisten, wie z. B. die im ersten Akt so oft untermischten enharmonischen Verwechselungen und Rückkehr in die Tonica durch ₄⁶ Akkord und das vielleicht zu oft gebrauchte ungewöhnliche und sonst piquante Anheben eines Stückes nicht mit dem tonischen Akkord, vermögen es nicht allein, Abwechselung und Contraste in das Ganze zu bringen. Seinen Hauptzweck, Rührung zu bewirken, hat dagegen Mehül sehr glücklich erreicht, die ganze Musik spricht an’s Herz, und schildert die Charaktere treffend und reizend: ganz vorzüglich sind die Ouvertüre, das Gebet der Söhne Jacobs, dessen Thema erst die Männer allein, dann die Weiber vortragen, und dann in contrapunktischen Eintritten zusammen ergreifen, so wie auch ein großer Theil des ersten Finals. Mit Recht wurde übrigens auch hier, wie an andern Orten, bey Besetzung der Rolen mehr auf Spiel als auf Gesang gesehen, und folglich Joseph von Herrn Mayer gegeben. Er hat unsere Erwartung sehr erfüllt. Seine Intonation ist rein, seine Aussprache nicht unverständlich, und sein Gesang gut genug für die nicht eben schwere Singparthie; wollte er nur durch sorgfältigeres Schließen des Athems seiner an sich nicht unangenehmen Stimme Klang zu geben suchen. Ueberhaupt ist es schade, daß H. Mayer seinen Gesang nicht mehr cultivirt, nach so manchem Guten was er in einigen frühern Singrolen (vorzüglich als Oranski in Faniska) leistete, was er heute wieder geleistet hat, und was ja so manche andere Sänger und Sängerinnen leisten, welche eben so wenig gründliche musikalische Festigkeit besitzen, als er. Sein Spiel, verbunden mit seiner sehr vortheilhaften Gestalt, that dem Ganzen sehr wohl, seine Bewegungen waren sprechend und richtig. Doch wünschen wir, er wäre da, wo er in vollem Ornat die Fremdlinge empfängt, nicht Hand in Hand mit seinem Untergebenen aufgetreten. Vorzüglich aber hätte er sein Hinknieen beim Morgengebet der Brüder mehr motiviren, und die an sich zu einem rührenden Theater-Effekt so günstige Szene vortheilhafter benutzen sollen; er knieete zu ruhig mitbetend hin – es sollte aber vielmehr ein von der überraschenden Rückerinnerung an seine Jugend hervorgebrachtes plötzliches Hinsinken seyn, ein unwiderstehliches Ergriffenwerden von den bekannten lieben vaterländischen Gesangweisen. – Dagegen gab er andre Szenen mit dem richtigsten Gefühle, z. B. das erste Erkennen seiner Brüder, wo er die Worte: „das ist Ruben, der älteste meiner Brüder – das ist Naphtali“ ec. mehr als einen Erguß seiner Freude, denn als eine Mittheilung an Utobal behandelte, mehr zu sich, als zu diesem sprach, und gewiß mit Recht. Auch wünschte Ref. sehr, daß Hr. Mayer den so häufig vorkommenden Sprachfehler ablegen möge, beinahe alle harten S weich auszusprechen, z. B. in: seine, singt, so; – er dringt dadurch unserer Sprache eine Weichlichkeit und Süßlichkeit auf, welche ihr nicht zu Gesichte steht. Endlich war sein Costüme wohl nicht streng richtig. Die aufgeschnittenen Schnürstiefeln waren gewiß weder ächt egyptisch, noch ebräisch. Juden und Egypter, auch die vornehmern, giengen baarfuß, und trugen höchstens Sohlen. – Sein kurzer Rock war von keiner egyptischen Calasiris abgesehen u. s. w.: – indessen mag hier, mo eine Vermischung von jüdischem und egyptischem Costüme leicht denkbar ist, auch noch freiere Idealisirung sich rechtfertigen lassen. Der zarte Benjamin wurde von Mlle. Frank zu Referentens großer Zufriedenheit ausgeführt; sie rührte ungemein, besonders durch einige Stellungen, namentlich als sie mit über die Brust gelegten Armen neben dem Bette ihres Vaters kniet – dann im letzten Akte, wo sie sich unter seine gegen die Söhne ausgestreckten Arme schmiegt, um den Eifernden zugleich zu stützen, zurückzuhalten und zu besänftigen. Herr Decker als Simeon zeigte sich heute von ungewöhnlich vortheilhafter Seite: Er leistete durch Feuer der Deklamation und Aktion wirklich viel; und in der That vorzüglich zu nennen und ergreifend war der Ton, in welchem er die Stelle sprach: „Gott! Gott! wenn ich nur weinen könnte.“ Auch waren die rothe Farbe seiner Kleidung und das schwarze Haar recht verständig gewählt, nur mehr Vernachläßigung hätte in seiner Kleidung sichtbar seyn dürfen. Herr Gerl gab den Patriarchen mit Würde und Haltung. Sein eisgrauer Kopf und großer Bart waren Ehrfurcht erweckend. Er sang seine Parthie, besonders das Duett aus E dur mit Mlle. Frank sehr brav. Nur bey dem, was er gleich beim Erwachen zu singen hat (vermuthlich ein Gebet) verstand man kein Wort. Auch Herr Kaibel zeigt in seiner wenn gleich untergeordneten Role, als Utobal, heute ein seltenes Kunstbestreben, und lobenswerthe Aufmerksamkeit auf alles, was er zu sagen und zu singen hatte. Solche Früchte unserer Bemühungen freuen uns ungemein. Möge er so fortfahren! Die Ensembles der Brüder giengen vortrefflich, und schienen fleißig einstudirt: auch wurde das, was einzelne der Brüder zu sprechen haben, größtentheils gut gesprochen, besonders charakterisirte Herr Werner mit seinem weichen Sprach-Organ ganz vortrefflich den weichern Hirten Naphtali. Ueberhaupt war die ganze gestrige Aufführung neben manchen br. m. gemachten Ellipsen in der Instrumentation eine der gelungensten, welche wir seit langer Zeit gesehen haben. Es war unverkennbar, daß sowohl Sänger als Orchester con amore spielten, besonders das letzte hielt sich durchgängig ausgezeichnet gut, und executirte seine Parthie, welche zuweilen nichts weniger als leicht ist, (wie z. B. die concertirende Introduktion zum dritten Akt) mit vollkommener Präzision. Schlecht war nur der Chor der Weiber beim Gastmal, wo denn wieder unmäßig detonirt wurde. Referenten fielen nebst dem auch die griechischen Liren auf, neben den ebräischen Harfen, und das ganz unegyptische Costüme der Damen. Die griechische Lyra kann zu Pharao’s Zeit wohl schwerlich bey den Egyptern schon bekannt gewesen seyn, da die uns geschichtlich bekannten Griechen damals noch gar nicht existirten. – Die Egypterinnen trugen auch keine griechischen Chemisen, giengen auch weder en cheveux, noch mit griechischem Haarschmuck, sondern trugen (nach Winkelmann) beinah immer Hauben. Am Ende des Stückes wurde Herr Mayer von einer so geringen Stimmenzahl vorgerufen, daß sein Hervorkommen diesmal vielleicht allzu bereitwillig war. Wäre er nicht erschienen, so würden wir mit Vergnügen dasselbe von ihm gesagt haben, was wir jüngsthin von Hrn. Kaibel als Tyrolerwastel sagten: es sey ungerecht, daß man ihn nicht vorgerufen. G. Giusto.