Aufsatz über Abbé Vogler
Ein Wort über Vogler.
Es ist ein anerkanntes Schicksal großer Männer, sich bei ihren Lebzeiten verkannt zu sehen, wo möglich Hungers zu sterben, und nach dem Tode von hungrigen Verlegern zum Himmel erhoben zu werden; denn der Mensch verlangt nie nach dem ihm zunächst liegenden, sondern nur das Verlorene hat ihm Werth.
So wird es auch der Welt mit Vogler gehen. Ein Theil staunt ihn an, weil er seinen Geist nicht zu ergründen wagt, der andere schreit und schimpft, weil er ihn nicht verstehen kann, und sich durch ihn seine neuen Ansichten vom Monopol des unfehlbaren Kontrapunktes und General-Baß-Schlendrians verdrängt und zurechtgewiesen sieht.
Vogler, welcher der erste ist, der in der Musik rein systematisch zu Werke geht, ist freylich dadurch in vielem von den Ansichten anderer großer Männer verschieden. Sein System ist allerdings noch nicht in der faßlichsten Form dargestellt; aber gibt sich denn einer von allen den Herren Rezensenten die Mühe, es kennen zu lernen? oder fragt bescheiden bey dem Verfasser an, der in Hinsicht der Bereitwilligkeit, seine Erfahrung und sein Wissen andern mitzutheilen, sich als wahren großen Mann, der nur um der Kunst willen und für die Welt arbeitet, beurkundet? – Nein! man überliest so etwas flüchtig, findet ein Paar seltsam scheinende Ausdrücke etc. und um sich witzig zu zeigen, oder ein Bonmot zu placiren, schreibt man Rezensionen, hebt, um die Lacher auf seiner Seite zu haben, irgendeine ins Lächerliche zu drehende Seite heraus (und welches selbst ¦ anerkannt vollendete Werk hätte nicht diese), und so bleibt wie gesagt dem Verfasser nichts übrig, als sich mit seinem seligen Ende zu trösten.
Durch alles Schreyen haben die Herren es endlich beinahe dahin gebracht, daß ein großer Theil der Kunstfreunde in Vogler blos den gelehrten, ja beinahe barocken und ganz trocknen Komponisten sieht. Und wie Unrecht geschieht ihm da; wie fließend sind alle seine Melodien, und wie erhebt er das unbedeutendstscheinende Thema durch seine himmlische Ausführung und Behandlung.
Der größte Beweis ist sein neuestes größeres Werk, was Ref. durch einen glücklichen Zufall ihm abzulauschen im Stande war – nämlich sein für ihn selbst komponirtes Requiem. Hier ist alles vereint, was die Kunst und das Künstliche in allen seinen Formen darbietet, und dies mit so großem Genius, Geschmack und wahrhafter Kunst behandelt, daß man sie darüber vergißt und rein vom Gefühl angesprochen wird.
Ref. hörte, daß bey des großen Haydns Tode Vogler den Urzweck seiner Arbeit vergaß, und das Requiem zu des von ihm Hochverehrten Totenfeyer in Wien hätte aufführen wollen; aber leider hinderte die kriegerische Zeit die Ausführung des edeln Gedankens, und da Vogler dann in Frankfurt es als Gedächtnisfeyer aufführen wollte, fühlte er sich auch davon durch bedeutende Hindernisse abgehalten. Wenn es dem Himmel einmal gefiele, einen Verleger zu erschaffen, der nur nicht allen Vortheil allein für sich behalten wollte, so könnte man vielleicht hoffen, mehr von den | Werken Voglers verbreitet zu sehen. So aber fühlt er sich nicht gedrungen, sich der Welt aufzudringen; und wie viel Genuß und Belehrung geht dadurch dem ganzen Wesen der Kunst und ihren Freunden verloren; denn Jeder spricht zwar mit Achtung den Namen Vogler aus, aber gleichsam nur aus Tradition, weil man entweder gar nichts, oder nur seine frühesten Kompositionen von ihm kennt.
Die philosophische Ruhe, in welcher er gegenwärtig in äußerst achtungswerthen Verhältnissen als geistlicher geheimer Rath und Großkreuz des Hessischen Ludwig-Verdienst-Ordens bey Sr. Königl. Hoheit dem Großherzoge von Hessen in Darmstadt lebt, läßt viel noch von seinem stets regen, täthigen Geiste hoffen, und möchte doch bald jeder Kunstjünger sich des Genusses erfreuen, den Ref. bey den Werken Voglers empfindet, und bey denen Jeder, der Gefühl, und nur wenigstens keine schiefe Ansichten hat, sich von den reinsten himmlischen Empfindungen, die uns Musik gewähren kann, erfüllt fühlen wird.
Melos.Editorial
Summary
kritisiert die seiner Meinung nach allgemein vorherrschende falsche Einschätzung von Voglers Werk; lobt Voglers Requiem; hofft auf mehr Verbreitung der Voglerschen Werke
General Remark
Weber plante das Verfassen einer Biographie über Abt Vogler; vgl. Briefe an G. Weber vom 23. Juni 1810; an Gänsbacher vom 9. Oktober 1810 und an Rochlitz vom 16. Mai 1814. Vorliegende Aufzeichnungen sind die einzigen, eindeutig Weber zuschreibbaren Materialien hierzu. Dagegen ist der von Georg Kaiser unter Webers Namen publizierte Beitrag “Abt Voglers Jugendjahre” aus der Kaiserlich Königlich privilegirten Prager Zeitung vom Juli 1816 von ihm mit zweifelhaften Argumenten Weber zugeschrieben. Völlig auszuschließen ist die Autorschaft zwar nicht, allerdings war Weber erst einige Tage zuvor nach Prag zurückgekehrt und dass ihm das Veröffentlichen der eher anekdotenhaft-persönlichen Dinge wichtig gewesen wäre, mag man immerhin bezweifeln.
Zuschreibung: Sigle (Melos.); Vermerk im Redaktionsexemplar im DLA Marbach: Weber; lt. TB, 12. Juni 1810 Aufsatz an Georg Reinbeck geschickt; vgl. auch TB, Moralische Uebersicht des Jahres 1810: Ein Wort über Vogler. Morgenblatt.
Creation
16. April 1810 (lt. Henrici-Katalog; vgl. Quellenbeschreibung); Versand am 12. Juni 1810 (laut TB)
Tradition in 2 Text Sources
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1. Text Source: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 4, Nr. 147 (20. Juni 1810), pp. 585–586
Corresponding sources
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Neue Fränkisch-Würzburgische Chronik, Jg. 5, Nr. 28 (14. Juli 1810), Sp. 440–442 ("Bemerkungen über Vogler, und dessen neuestes größeres Meisterwerk"
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HellS II 1828, S. 22–25
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Kaiser (Schriften), S. 321–323 (Nr. 13)
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2. Text Source: Draft: verschollen
Physical Description
- lt. Auktionskatalog signiert mit “Melos. Aschaffenburg, den 16. Aprill 1810.”; Datierung wird durch TB nicht gestützt
- unter derselben Katalognummer weitere Weber-Schriften; insgesamt 2. b. S., Folio-Format
Provenance
- Henrici Kat. 36 (8. und 9. Dezember 1916), Nr. 925
- 1832 von Caroline von Weber an Friedrich Schwaan verschenkt; übersendet mit dem Brief vom 26. August