Aufführungsbesprechung Leipzig, Neues Theater: “Die drei Pintos” von Carl Maria von Weber am 20. Januar 1888
Neues Theater.
Das neueste Opernereigniß, dem man in ganz Deutschland, ja auch weit über seine Grenzen hinaus in England und Amerika erwartungsvoll seit Monden entgegengesehen, es ist vorgestern dank der unermüdlichen Initiative unserer Direction Max Staegemann auf hiesiger Bühne in die Erscheinung getreten. Die komische Oper Carl Maria v. Weber’s: „Die drei Pinto’s“, von der der Meister nur sieben Nummern im Entwurf uns hinterlassen, ist, nachdem sie im dramatischen Theil durch Weber’s Enkel, Herrn Hauptmann Carl von Weber, und im musikalischen durch Herrn Kapellmeister Gustav Mahler die unbedingt nöthig gewordene Ergänzung erfahren, nunmehr in solcher Gestalt als Ganzes sichtbar geworden: der künftige Geschichtsschreiber der Leipziger Oper wird dem Abend vom 20. Januar 1888 ein besonderes Capitel zu widmen und dabei festzustellen haben: keine einzige der jüngsten Novitäten vermochte eine entfernt ähnliche Wirkung zu wecken wie diese „drei Pinto’s“, die nunmehr aus einem 66 Jahre währenden Torsozustande erlöst worden sind: dieselbe Verehrung, die man dem Schöpfer von „Freischütz“, „Euryanthe“, „Oberon“ in der gesammten Welt entgegenbringt, dieselbe Liebe, die sich gelegentlich des einhundertsten Geburtstages des unsterblichen Meisters überall besthätigt hat, sie äußerte sich vorgestern bei den an den „drei Pintos“ freudig vollgezogenen Taufacte!
Ueber die Vorgeschichte des „drei Pintos“ und die Gründe, warum Weber sie nur in so mäßigen Bruchstücken der Nachwelt überliefern konnte trotz seiner anfänglich sehr warmen Begeisterung für diesen humoristischen Stoff, sind wir durch den Enkel des Componisten hinlänglich unterrichtet. Seit Jahr und Tag hat sich die Fach- wie die Tagespresse mit dieser Angelegenheit beschäftigt und immer ihr das Interesse geschenkt, welches sie in der That in vollem Maße verdient. Ein Enkel des Meisters Herr Hauptmann Carl von Weber, weilt in unserer Mitte, und dieser Umstand fällt für unsere Aufführung um so mehr in’s Gewicht, als er allein die Manuscripte heilig zu verwahren hat, die bei der Ergänzung dieser „drei Pintos“ in Frage kommen.
Sehen wir uns nun zunächst die Handlung der Oper in ihrer gegenwärtigen Form an, so finden wir das in ihr doch jedenfalls zur Vorherrschaft bestimmte komische Element schwächer vertreten, als man wohl erwarten dürfte. Und wenn die Entwickelung in der Th. Hell’schen Originalfassung ungeschickt und problematisch gewesen sein soll, so hätten wir’s dem Bearbeiter wahrlich nicht übel genommen, wenn er dem Fehler gründlich beigekommen und mit einer Fülle komischer Einfälle dem Ganzen so zu Hülfe geeilt wäre, daß jeder fernere Wunsch überflüssig gemacht würde. Nach unserm Dafürhalten hat sich der Enkel noch zuviel Zwang auferlegt: die an sich gute Idee, eine Braut von drei Bewerbern umringen zu lassen und dadurch viele Conflicte herbeizuführen, verlangt eine möglichst flotte Erledigung; der Dialog vertrug durchweg eine frischere, witzigere Färbung; wohl lacht im ersten Act öfter das gesammte Personal auf der Bühne; der Zuschauer aber weiß nicht recht warum, und jedenfalls wäre es besser, wenn die Handlung selbst so lustig erschiene, daß das Publicum auf eigene Rechnung das Lachen besorgte. Ob der Bearbeiter bezüglich der stilistischen Ausarbeitung in seinem Textbuch höheren Anforderungen hat genügen wollen, scheint uns zweifelhaft: mehrere Stellen nehmen sich allzu ungelenkt im sprachlichen Ausdruck aus; vielleicht greift hier die Darstellung künftighin verbessernd ein.
Und wie hat Gustav Mahler den „musikalischen Theil“ bearbeitet und ergänzt? Auf eine meist so glückliche und geschickte Weise, daß seinem dabei bewiesenen Talente kaum genug wärmste Anerkennung gezollt werden kann. Vor den Schwierigkeiten, die einem Meyerbeer und vielen anderen anerkannten Meistern unüberwindlich schienen, ist er nicht zurückgeschreckt: sobald ihm einmal der Augenblick der Erleuchtung gekommen und er über die bei der Arbeit ihn leitenden Gesichtspunkte zu voller Klarheit gelangt war, unterzog er sich der Reconstruction mit einer Ausdauer, Gewissenhaftigkeit und Zielbewusstheit, vor der Jeder tief den Hut zu ziehen hat. Nur dann konnte seinem Bemühen der rechte Erfolg beschieden sein, wenn mit einem glühenden Enthusiasmus für den Meister sich eine Befähigung verband, die eingedrungen in den Kern von Weber’s Wesen und wohl vertraut ist mit all ihrer Eigenart auch in der musikalischn Detaillirung. Gustav Mahler war in der That mit allen Erfordernissen ausgerüstet. Wohl mag Einzelnes in der thematischen Entwicklung und instrumentalen Einkleidung mit Fragezeichen zu versehen sein: z. B. können wir uns nicht vorstellen, daß im dritten Acte das Nachspiel der sechsten ¦ Scene Weber’s unbedingten Beifall fände: es ist viel zu sehr aufgebauscht und in neufranzösischem Sinne auf den Effect zugespitzt[.] Von der Tuba, die hier öfter mit den Posaunen loslegt, hat Weber in seinen Opern nirgends Gebrauch gemacht: ebensowenig kennt er gestopfte Trompeten: diese orchestralen Anachronismen sind leicht zu beseitigen. Das erste Finale des dritten Actes finden wir zu tumultuös, für eine solche lärmende, mit melodieblasenden Trompeten gestützte Ensembleführung bieten wohl Meyerbeer, nirgends aber Weber die Vorbilder.
Aber wie ließen sich überhaupt derartige Unausgeglichenheiten vermeiden? Vollendetes nach jeder Beziehung hätte nur der Meister selbst in den „Drei Pinto’s“ uns bieten können: jene feinen Ueberraschungen, die aus seinem Genie hervorblitzten und seinen Melodien einen so unbeschreiblichen Zauber für ewig sichern, jener feine Farbensinn, der in seiner Orchestration sich überall bekundete, das Alles besaß Weber als Gottesgabe, die kein Zweiter in gleichem Grade wieder besitzen sollte.
Wie frisch und unmittelbar indessen wirkt auf uns in allen Acten die Weber’sche Melodik ein! Da ist sogleich der Einleitungschor: „Leeret die Becher“ so prächtig, daß er Gemeingut aller Liedertafeln zu werden verdient. Gaston’s Rondo: „Was ist dann thu’, das frag’ ich nicht“, ist eine gesungene Polonaise, die an Grazie und Geist ihres Gleichen sucht. Und das Terzett: „Ei, wer hätte das gedacht“, wird in seiner gemüthlich-komischen Essenz von nichts Aehnlichem übertroffen. Die Romanze der Inez: „Leise weht es“ ist von einer melodischen Ursprunglichkeit, und in der Charakteristik des buchstäblichen Katzenjammers (wie putzig das „Miau“ in dem Wehruf der Oboe!) so kostbar, daß sie den Werth eines Juwels uns darstellt. Wie zierlich fließt die Canzonette dahin: „Wir, die den Musen dienen!“ Wir müßten dieser Nummer in ihrem conversationellen Reize vielleicht nur das Duett des George Brown mit Jenny (in der „Weißen Dame“) zur Seite zu stellen. Noch origineller ist sogar das Terzett: „Also frish das Werk begonnen“. An Drastik würde die ganze Scene wahrscheinlich durch eine kräftigere Kürzung gewinnen. Das Werk „liebender Instruction“ zieht sich zu sehr in die Länge. Das erste Finale ist reich an charakteristischen, ergötzlichen musikalischen Eingebungen.
Die Zwischenactsmusik (zum 2. Act) ist bestrickend schön instrumentirt; ob aber Weber ihr einen so breiten Raum und vollends eine zweitheilige Fassung wirklich bestimmt hatte? Hier geräth leider die Handlung etwas zu sehr in’s Stocken: das dramatische Interesse erlahmt, es geschieht zu wenig, was uns aufrütteln könnte. Dafür entschädigt nun freilich eine überaus kostbare Musik: Laura’s Lied: „Höchste Lust ist treues Lieben“, würde einem Aennchen im „Freischütz“, einer Fatime im „Oberon“ nur zur größten Ehre gereichen: schwebt über Clarissen’s Arie: „Wenn süßer Hoffnungstraum –“ nicht der Geist Agathen’s und schwillt nicht auch hier aus der Melodie die lieblichste Blume der Sehnsucht und freudiger Zuversicht empor? Steht das daran sich schließende Abschiedsterzett etwa wesentlich hinter dem im „Freischütz“ zurück, an welches die ganze Situation erinnert: Gomez ist ein anderer Max, Clarissa eine andere Agathe und Laura ein anderes Aennchen!
Ein lebendiges Lied mit Chor: „Schmücket die Halle“ leitet hinüber zu dem urkomisch erfundenen, frappirend instrumentirten (Pauke, Fagott!) canonischen Terzettino: „Mädchen ich leide süße Liebespein“: und Ambrosio’s Lied: „Ein Mädchen verloren“ mit dem „Lalarefrain“ ist ein classischer Zeuge jener Weber’schen Gemüthsheiterkeit, die in unserer Zeit bereits im Aussterben begriffen scheint. Ein rührender Zug geht durch das Rondoterzett: „Ihr, der so edel“, ein anmuthiger durch das andere: „Mit lieblichen Blumen“. Und wie so Manches wäre noch zu nennen, was aus dem oder jenem Grunde beachtenswerth!
Welcher Reichtum an kernigen, gesunden Melodien, welch’ fröhliches Behagen, welche quellende Natur und Schönheit in diesen Weisen, deren jede für sich zu einem neuen Ruhmesherold der Weber’schen Genialität wird.
Die vorgestrige erste Aufführung unter der von hellster Begeisterung getragenen Leitung den Herrn Capellmeister Mahler war bis auf einige begreifliche Versehen herrlich gelungen und gestaltete sich für den Dirigenten, der so bedeutende Verdienste um dieses Werk sich erworben, zu einem glorreichen, epochemachenden Ereigniß seines Lebens. Herr Mahler wurde denn auch mit Beifall, zahllosen Hervorrufen überschüttet; sogleich nach dem ersten Act mußte er erscheinen, und nach dem dritten, als um Weber’s auf der Bühne aufgestellte Büste sich alle Ausführenden gruppirt und wärmste Huldigungen entgegen zu nehmen hatten, war er der Hauptzielpunkt rauschender Ovationen. Wohlverdientermaßen rief man stürmisch auch den Herrn Director Staege¦mann hervor: hatte er doch mit hingebendem Eifer die Inscenierung geleitet und so der Neuheit das würdigste Festgewand beschafft.
Auf die Einzelleistungen kommen wir demnächst noch ausführlicher zurück: für heute sei nur bemerkt, daß fast sämmtliche Rollen vortrefflich besetzt waren und die glücklichste Durchführung erfuhren. Wie burschikos lebendig und frohgemuth ging Herr Hedmondt auf den Gaston ein, mit welcher Sicherheit gestaltete Herr Grengg den tölpelhaften Pinto, der Vieles mit dem Damian im „Trompeter“* gemein hat. Für den Diener Ambrosio giebt es schwerlich einen beweglicheren, den feinsten Nüancen besser gerecht werdenden Darsteller und Sänger wie Herr‡ Schelper. Dem Gomez lieh Herr Hübner eine wohlberechtigte Gefühlswärme; heldenmüthig und dabei mit rühmlichem Erfolge wirkte Frau Baumann mit als Clarissa, obgleich sie mit einer nicht geringen Indisposition zu kämpfen hatte. Frl. Artner ist als Laura ebenso tüchtig und auf ihrem Platze wie als Aennchen im „Freischütz“. Für Inez bringt Frl. Rothauser Alles mit, was die in der Katzenromanze so schön bedachte Wirtstochter bedarf. Herr Köhler repräsentirte den Pantaleone würdig, die kleinen Rollen waren befriedigend. Die sehr dankbaren Chöre kamen meist anerkennenswerth heraus: die scenischen Arrangements ließen an Schönheit und Charakter nichts zu wünschen übrig. So wurde dieses Osterfest*, das einer Weber’schen Oper vorgestern bei uns strahlend aufging, zugleich ein Ehrenmal für unsere Direction und alle an der Ausführung Betheiligten. Das Haus war vollständig ausverkauft, der Enthusiasmus grenzenlos, mehreres mußte wiederholt werden.
Bernhard VogelEditorial
Summary
Bericht zur Uraufführung der drei Pintos in der vollendeten Fassung von Gustav Mahler in Leipzig. Die Beurteilung fällt insgesamt positiv aus, es wird jedoch auch differenzierte Kritik geübt.
Creation
–
Responsibilities
- Übertragung
- Amiryan-Stein, Aida
Tradition
-
Text Source: Neues Theater, in: Leipziger Nachrichten. Beilage, Jg. 28, Nr. 22 (22. Januar 1888)