## Title: Aufführungsbesprechung der Oper Euryanthe von Carl Maria von Weber in Berlin (Teil 1/2) ## Author: Marx, A. B. ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A032098 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Webers Euryanthe in Berlin.Seit dem ersten Erscheinen der Oper Euryanthe auf dem Theater in Wien hat man sich im Publikum das Ausbleiben des erwarteten höchsten Eindrucks nicht anders zu erklären und die liebende Verehrung für den Komponisten des Freischützen nicht anders zu bewahren gewußt, als daß man alles Fehlschlagen auf Rechnung der Dichterin und ihres Antheils am Werke setzte und an einzelnen zunächst erkannten Schönheiten der Komposition nachweisen wollte, was Weber hätte leisten können, wenn er – nicht durch das Gedicht gehindert gewesen wäre. Dieses Verfahren, einen Komponisten auf Kosten seines Dichters zu vertheidigen, ist nicht neu, sondern nur durch die Berühmtheit des diesmal betroffenen Werkes eben jetzt der Beachtung näher gerückt worden. Der Unterzeichnete hat sich bis zur Generalprobe und ersten Aufführung der Euryanthe auf dem hiesigen Operntheater jeder unvollkommenen Bekanntschaft mit dem Werke aus Klavierauszügen, Konzerten u. s. w. entzogen, um sich die Frische eines ersten, vollkommenen Eindrucks zu bewahren. Dennoch hatte es ihm von jeher gedünkt, als wenn We ber der Vertheidigung auf Kosten eines Andern nicht bedürfen könne, vielmehr groß genug und hinlänglich gekannt sei, um etwaige Fehler und Verirrungen mit unleugbaren Verdiensten zu übertragen. Ja es schien ihm auch die Vertheidigung selbst sehr problematisch. Jeder Komponist bekennt sich, wie schon öfters in dieser Zeitung ausgesprochen worden, durch die Wahl eines Gedichts zu demselben; und Weber hat überdem die Dichterin nach deren öffentlichen unwidersprochenen Versicherungen überall seinen Wünschen bereitwillig entgegenkommen sehen. Als dramatischer Komponist muß er aber verstanden haben, was ein Operngedicht ihm gewähren könne und solle, und er wäre es, der etwaige Fehler des Gedichts vor dem Publikum von Rechtswegen zu vertreten hätte. So lange dieser Grundsatz nicht allgemein anerkannt wird, so lange man es als ein Spiel des Zufalls, als einen Glückswurf ansieht, auf welches Gedicht ein Komponist geräth: so lange wird es uns an dramatischen Komponisten und denen, die ohne Kenntniß der dramatischen Poesie Opernkompositionen unternehmen, an dem erwarteten vollen Erfolge mangeln. – Man sollte auch bei jenem Eifer für die Komponisten auf Kosten ihrer Dichter bedenken, daß dieses nur zu verbreitete Verfahren für die Letztern eben nicht aufmunternd sein kann und daß die nachtheilige Folge – wenn die Dichter sich dem Opernfache versagen – zuletzt doch auf die Komponisten zurückfällt. Die gründliche Bekanntschaft mit dem Werke gewährte nun dem Ref. wiederum Bestärkung seiner Ueberzeugung: daß jedem Komponisten der Stoff zu Theil wird, der ihm eben ganz zusagt. Auch Weber, mag er nun die Fabel der Euryanthe selbst erwählt, oder auf den Vorschlag Anderer angenommen haben, auch Weber hat den Stoff ergriffen, der ihm nothwendig war, wenn das in ihm ruhende, im Freischützen noch gebundene Prinzip der Romantik (wir werden uns darüber näher zu erklären haben) zur Vollendung kommen sollte. Ein Künstler, wie er, lebt nur sich selbst, sogar wenn er hier und | da meinen sollte, Andern, dem Publikum zu leben. Er hätte sich bei Euryanthe überredet haben können, daß dieser Stoff dem Publikum der zeitgemäßeste sei: so war dies eben wieder nur der Ausdruck des Bewußtseins, oder der Ahnung, daß er in dem Stoffe lebe und daß man nichts Besseres geben könne, als sein eignes Leben. Man hätte ihm jene Hoffnung nehmen können und er würde – der Ref. müßte keine Ahnung von dem Wesen des Künstlers haben – und er würde seine Euryanthe doch nicht haben aufgeben können. Es hat sich aber schon oft ereignet, daß ein dem Künstler natürliches und nothwendiges Werk, während es in den Augen derer, die ihn verstehen, seinen Werth erhöht, der Mehrzahl der Zeitgenossen noch verschlossen bleibt, ja wol gar mißfällig erscheint. Eines der größten Werke Göthe’s, seine Pandora, ist noch jetzt, während ganz Europa dem Dichterfürsten huldigt, unbekannt. Mozarts Figaro und Don Juan gingen so weit über die Vorstellungen der Zeit hinaus, daß man sie schwerfällig, unmelodisch nannte. Auch Euryanthe scheint dem Ref. mehr der Zukunft und hoffentlich einer nahen, zuzugehören, als der Gegenwart. In Berlin wird man – ganz abgesehen von dem Enthusiasmus für den Komponisten und Einzelheiten seines Werkes – zuerst auf die Idee des Ganzen allgemein eingehen. Im heutigen Wien ist dies nicht zu erwarten gewesen. Daß die Wiener Rossini anbeten und in ihren Geisterpossen jubeln, daß sie aufgegeben haben, Euryanthe sich anzueignen, und daß sie ihre Operntheater zu Grunde gehen sehen: das hängt ganz eng zusammen. Wenn von einem Mißgriffe Webers und der Dichterin die Rede sein soll, so ist es der, daß sie die Oper zuerst in Wien haben aufführen lassen, wo nicht einmal versucht worden ist, über das Werk sich zu verständigen, über seine Idee und Tendenz aufzuklären – wo man sich an leeren preisenden oder verunglimpfenden Korrespondenzen befriedigt hat. Die aus der vorigen Musikperiode angestammte Autorität Wiens hat unter diesen Umständen ganz gewiß auch anderwärts den Erfolg der Oper be nachtheiligt; man ist ihr nicht mit der gespannten Aufmerksamkeit, mit dem Eifer, ein neues Werk zuerst zu erfassen, entgegen gegangen; sie erschien als ein schon besprochenes (ohne es zu sein) und man trat dem Wiener Erfolge bei, sobald sich das Werk nicht bequem zugänglich erwies. Wenn Ref. aber zugesteht, daß Euryanthe wirklich nicht dem ersten Zulangen erreichbar ist, so glaubt er keinen Tadel, sondern ein Lob über das Werk ausgesprochen zu haben. Ein Werk ist uns um so zugänglicher, je mehr es sich unsern bisherigen Vorstellungen anschließt. Soll es dem großen Publikum sogleich erfaßbar sein, so muß es sich nicht über den Ideenkreis erheben, in dem jetzt die Mehrzahl lebt. Nur selten gelingt es höhern Werken, auch das große Publikum durch eine Art von Täuschung früher zu gewinnen, als ihre Idee in das gemeine Leben getreten ist. Dies scheint noch heute der Fall mit Don Juan, wenn man die allgemein übliche Darstellung und Aufnahme mit der Musik und etwa E. T. A. Hoffmanns Kommentar (in den Fantasiestücken) zusammenhält. Es ist also ein zweideutiger Ruhm eines Kunstwerkes, sogleich allgemeinen Zugang gefunden zu haben und das entgegengesetzte Schicksal Euryanthe’s beweiset nichts gegen sie und Weber. Die Ursache jener Erscheinung bei Euryanthe dürfen wir aber nicht in Einzelheiten des Gedichts und der Komposition suchen. Die Letztere namentlich scheint mir zum größern Theil leicht faßlich und allgemein ansprechend und das erstere, mag es auch manche schwächere Stellen enthalten, bietet ein große Mehrzahl der anziehendsten Momente. Wir wollen, um die oft angegriffene Dichterin selbst für sich reden zu lassen, den Text der Kavatine vorausnehmen, mit der Euryanthe, in der Wildniß vom Geliebten schuldlos verstoßen und verlassen, sich zum letzten Schlummer niederlegt. Hier dicht am Quell, wo Weiden stehn, Die Sterne hell durchschauen, Da will ich mir den Tod erflehn. Mein stilles Grab mir bauen. Wohl kommt auch er einst weit daher Und findet kaum die Stätte mehr u. s. w. | Welch’ ein wahrer Zug treuer, demüthig hingegebener Liebe! Weber dankt ihm eine der tiefst empfundenen Stellen: Wohl kommt auch er einst weit daher Man verliert sich mit in die Phantasie des zärtlichen Herzens, das seine letzte Hoffnung auf dieses Kaum setzt und darin die Treue in Verstoßung und Tod genug belohnt sieht. Das Künstlerpaar, dem ein solcher Zug gelungen, muß an hinlänglich vielen Stellen das Publikum tief zu ergreifen gewußt haben und in der That sind auch viele selbst von den Orten her berühmt geworden, wo man auf das Ganze nicht vollkommen eingegangen ist. In diesem aber, seiner Idee und Tendenz nach, finden wir das bisherige Schicksal des Werkes und unsere Hoffnung für dessen Zukunft begründet. Euryanthe ist (wie wir schon oben angedeutet) romantisch; und das nicht blos dem Stoffe, sondern auch der Auffassung und Bildung nach. Das Bild der alten Ritterzeit hat für uns seine bestimmten Umrisse verlieren müssen; so lange haben wir uns ausschließlich bei der Geschichte der klassischen Völker verweilt und so weidlich haben sich Dichter und Romanschreiber mit Nebel-Ideal-Rossen auf diesem Feld getummelt. Sollen wir strengere Rechenschaft ablegen von den Vorstellungen, die sich über jene Zeit verbreitet und festgesetzt haben: so finden wir uns vor einer in Nebel gehüllten Landschaft, aus der hier und da ein Gipfel im Stral der siegenden Sonne hervorleuchtet. Die auftauchenden Punkte sind Mannlichkeit und Heldenthum, auch Roheit (und was damit Bekanntes zusammenhängt) auf einer, adliche Jungfräulichkeit, Treue, Reinheit, Minne auf der andern Seite, daneben vielleicht noch Pfaffenthum. Diese einzelnen Erscheinungen sind aber noch kein Bild eines in sich abgeschlossenen, berechtigten Sein’s. Jene Zeit und ihre Kinder stehen nicht in ihrer geschichtlichen Vollendung da und deshalb erfassen wir ihr Wesen nur, wo es sich an gewissen Begebenheiten offenbart. Daher haben wir Romane, Balladen und epische Gedichte, aber keine Dramen für jene Epoche, allenfalls den Götz von Berlichingen ausgenommen, der sie jedoch nur von fern, in ihrem Verscheiden, berührt. Auch Euryanthe ist nichts anders, als ein dramatisirter Roman, nicht durch Schuld der Dichterin, sondern durch eine Nothwendigkeit, die in dem Standpunkte des Komponisten und seiner Zeit, und in der erwählten Fabel lag. Diese möge in ihren Grundzügen unsern Ausspruch unterstützen. – Lysiart beneidet dem Grafen Adolar die königliche Gunst und weiß seinen Ingrimm nicht anders auszulassen, als daß er der Geliebten Adolars, Euryanthe’s Karakter zu verunglimpfen sucht, prahlend: es würde ihm leicht sein, ihre Minne zu gewinnen, und eine Entscheidung durch Waffen ablehnend. Dies reißt Adolar hin, seine Güter gegen Lysiarts auf Euryanthe’s Treue zur Wette zu setzen. Lysiart vermag nichts gegen ihre Beständigkeit. Wohl aber verschafft er sich, durch eine treulose Freundin Euryanthe’s, Eglantine, einen Scheinbeweis; Euryanthe wird für schuldig und überführt geachtet und Lysiart erhält Adolars Güter, auf denen er mit Eglantine zu herrschen gedenkt. Adolar führt Euryanthe in den Wald, mit dem Tode ihre Treulosigkeit zu strafen. Sie gewahrt eine Schlange; bereit, sich für den Geliebten zu opfern, rettet sie ihm das Leben. Er erlegt die Schlange, mag, die ihn gerettet, nicht morden, verläßt sie aber in der Wildniß. Zufällig findet sie der König auf einem | Jagdzuge; Eglantine, vom Gewissen gefoltert, bekennt ihr und Lysiarts Verbrechen und Euryanthe’s Schuldlosigkeit und die Liebenden werden wieder vereinigt. Diese Fabel bietet eine Reihe von Begebenheiten, die sich zufällig an einander schließen, keine aus der Natur und den Verhältnissen der auftretenden Personen hervorgehende, in sich abgeschlossene Handlung. Daher sind vornehmlich die Hauptpersonen duldend – oder ihre Handlungen sind es doch nicht, die mit Nothwendigkeit zur Entscheidung führen. Nur zufällig, ohne vorbedachte Absicht, wird Lysiarts Ingrimm durch das zufällig zu Euryanthe’s Preis gesungene Minnelied auf diese gelenkt; ohne eignes Zuthun wird Adolar zu der Wette hingerissen; nur zufällig findet Lysiart bei Eglantine Hülfe, zufällig hindert die Schlange Adolar’s Mordplan, zufällig erscheint der König nach Euryanthe’s Rettung, zufällig irrt Adolar nach seiner verlornen Burg zurück und zufällig brechen Eglantinens Bekenntnisse zu rechter Zeit hervor. Hiervon konnten Einzelheiten geändert und verbessert werden; im Ganzen und Wesentlichen litt die Fabel keine andre Bildung. Darin ist aber begründet, daß die Karakterentwickelung dem Gewebe des Zufalls untergeordnet blieb. Euryanthe vor allen ist willenlos der argen List Lysiarts und dem Zorne Adolars hingegeben. Wenn wir von jener geringen Schuld, daß sie Eglantinen ein Geheimniß vertraut (und damit das Werkzeug der Verrätherei in die Hand gegeben) hat, absehen, so hat sie an ihrem Unglücke, wie später an ihrer Rettung, keinen thätigen Antheil. Schuldlosigkeit und treue Liebe, das sind die schönen Züge, die mittels jener Begebenheiten an ihr offenbar werden; aber das genügt noch nicht zu einem dramatischen Karakter. Ungefähr eben so verhält es sich mit allen Personen, namentlich mit Adolar, dessen Karakter und Handlungsweise an jener Fabel so wenig motivirt ist, daß nach seiner weichen Sehnsucht nach Euryanthe, seine furchtbare Strenge gegen die vermeintlich Schuldige, selbst als sie ihm auf Gefahr des ihrigen das Leben rettet, und gleich darauf wieder seine zagende Ver zweiflung unbegreiflich, ja unnatürlich erscheinen könnte, weil die Fabel nicht Raum und Anlass gegeben hat, aus dem Karakter jener Zeit und aus ihrer Denk- und Empfindungsweise über Ehre und Minnetreu jene scheinbaren Widersprüche zu lösen. In einer Erzählung, deren Hauptzweck Unterhaltung ist, befriedigt uns eine solche Fabel und jene Lücken in der Karakterentwicklung verlieren ihr Unbefriedigendes und ihre Härte; denn wir gehen über das Ganze und Einzelne flüchtiger hinweg. Allein die Bühne stellt den Menschen körperlich vor uns hin und hält uns drei Stunden lang nur an ihm fest. Ist es da nicht gelungen, uns an ihn glauben, mit ihm leben, ihn uns werth und theuer zu machen, so fühlen wir uns unbefriedigt; und jenes kann mit Sicherheit nur da erreicht werden, wo der Mensch in seiner Würde – das heißt selbständig handelnd – und statt jenes Undings, Zufall, der Gott im Menschen erscheint. Die Handlung des Drama sei der Kulminationspunkt im Leben der Hauptpersonen, der Moment, in dem sich ihr Karakter vollkommen entwickelt, das Erzeugniß ihres vergangenen Lebens und heilbringend oder zerstörend, der Bürge ihrer Zukunft; alle anderen Personen unterliegen nach dem Maaße ihres Antheils an der Handlung denselben Ansprüchen. Eben diese Eigenschaften sind es, die Glucks Opern, namentlich seinen Iphigenien, Mozarts Don Juan und Figaro und andern mehr die größte Kraft geben; es sind die Hebel, die nie und namentlich in ernsten Dramen niemals ohne Nachtheil unbenutzt geblieben sind. Die Fabel der Euryanthe hat ihre Anwendung nicht zugelassen, während der Ernst und die Gewichtigkeit des Inhalts, durch den Nachdruck der herrlichen Musik noch erhöht, sie dringend verlangte. In ihrem Mangel, nicht also in einem Fehler der Dichterin und des Komponisten, sehen wir den Hauptgrund, warum das große Publikum hier und da nicht so lebhaft auf das Werk eingegangen ist, als man es erwartet hat. Es fühlte sich gewaltig angeregt, und für diese Anregung durch jenen Mangel nicht hinlänglich befriedigt. – Wie übrigens | die Natur des Stoffes nach unserer obigen Ansicht sich dem Komponisten selbst in epische Form gedrängt hat, zeigen unter anderm nicht wenige offenbar balladenartige Anklänge, z. B. gleich der Anfang der schönen Introduktion, die Komposition der Worte: daß nicht ihr Heil verderbe, (S. 28 des steinerschen Klavierauszugs.) des Meeresgrund hegt Perlen makelrein, (S. 29.) trotz deiner Rosenwang’ und goldnen Zither. (S. 30.) sogar der präludienartige Anfang und der nachfolgende erste Hauptsatz der Ouvertüre, der im herrlichsten Gelingen uns als Weise eines ritterlichen Troubadours jener Zeit anklingt. (Fortsetzung folgt.)