Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: “Nathan der Weise” von Lessing, 22. Juni 1819 (Teil 2 von 2)
Nathan der Weise.
(Beschluß.)
Herr Julius als Tempelherr bewährt den denkenden, das Gedachte ohne Fehl und Wandel kräftig durchführenden Künstler ganz vorzüglich in dieser schwierigen Rolle. Denn mit trotziger Leidenschaftlichkeit ist’s hier eben so wenig, als mit mildernden Toilettenkünsten abgemacht. Den trotzigen Brausekopf, den das heiße Blut des Orients von väterlicher Seite in den Adern fließt, den Stolz des Christen, gesteigert durch das stolzeste Ordensgefühl, gab er auf eigne Weise, aber aus einem Guß. Das giebt sich wohl, wenn man nur in den Geist der Rolle eingedrungen ist. Sein fast ärmliches Ordenskleid, der ungewaschene wollene Mantel, der zerdrückte Filzhut waren im Einklang. Das versteht sich. Aber nun kommt die Klippe. Die schwäbische Derbheit, der deutsche Bär kann auch eckig, ja ungeberdig gegeben werden, letztres besonders in Gegenwart der Frauen. Die abwehrende Beweglichkeit in Mienen und Gebehrden kann in Grimasse ausarten. Wir erinnern uns eines Schauspielers, der sich unaufhörlich die Augenbrauen strich und den drallen Gang ganz wunderlich mißverstand. Solche Mißgriffe können unserm Julius nicht begegnen. Doch war er bei der ersten Vorstellung etwas zu schroff gewesen. Dies alles trat dießmal in gehöriges Ebenmaß. Wir sahn in der Unterredung mit Recha die Wirkung des electrischen Funkens. Die rauhe Hülse sinkt, so wie ihn der Lilienstengel der Liebe berührt. Vortrefflich das sich zusammentreffende Davonspringen. Recha’s Rede am Sinai sollte nicht gestrichen worden seyn. Recha’s Gegenrede wird fast unverständlich und des Tempelherrn wonnetrunkenes Anschaun hat keinen Spielraum. Ausgezeichnet war der Moment, wo er sich Nathan an den Hals werfend, durch dessen Besonnenheit zurückgeworfen wird. Höchst gefühlvoll der Ton, wie er später, beim zweiten Anlauf zur Brautbewerbung, den Nathan bittet: gebt sie mir! Vor allem aber zeigte uns dießmal der letzte Monolog im fünften Act, wie ihm alle Schuppen gefallen sind. In dieser herrlichen Szene spiegelt sich die innere Klarheit auch durch äußere Ruhe und Verklärung in den Geberden ab. Aber die Schroffheit in der Erkennung[s]szene am Schlusse war dießmal noch verstärkt, noch schroffer gezeichnet. Sehr richtig. Die Umwandlung des Liebhabers in den Bruder ist warlich eine sehr gewaltsame Operation.
Der Klosterbruder war bei der ersten Vorstellung statt arglos-humoristisch, klug-demüthig gespielt zu werden, mehr kränklich und winzelnd gegeben worden. Herr Werdy gab uns den wahren Klosterbruder, dessen gemüthliche Einfalt doch große Lebenserfahrung birgt, ganz im Sinne des Dichters. Nur so wird die bangende Einfalt, die Sorglichkeit, ob der Templer auch am Köder anbeißen werde, zur Ironie. Aber die so oft wiederkehrenden Restrictionen in: „sagt der Patriarch, meint der Patriarch“, sind auch jetzt noch einer seinern Abstufung in Pause und umtastenden Mienenspiel empfänglich.
Da sich in diesem nie ganz auszulernenden Meisterwerke alle Figuren, nur den ganz allein stehenden Nathan ausgenommen, in wahlverwandtschaftlichen ¦ Ausgleichungen von Mangel und Ueberfluß paaren, so steht die gleichfalls beschränkte, aber ängstlich-bangende, niedrig-schlaue Daja mit ihrer geschwätzigen, und doch am Ende auch sehr gutmüthigen Gemeinheit, mit einem Worte die gute böse Daja, dem Klosterbruder überall gegenüber. Mad. Hartwig gab ihre geschäftige Gemeinheit, ihre unabtreibbare Zudringlichkeit, die immer höher steigende Gewissensangst sehr ergötzlich und wahr. Der fast nicht zu verfehlende Umriß ward doch aufs sorgfältigste von einer Künstlerin ausgemalt. Wie aus dem Leben gegriffen ihr Zurückbeben, wie der Gewissensbiß sie an bestechlicher Hingebung hindert, wie lebendig das Hervortreten des nun nicht mehr zu beschwichtigenden Gewissens, als sie – nicht mehr bloß ausweichend, nein, im wahrem Naturschrei – „Verführer!“ ausruft. Ihr Costüm war ungemein entsprechend.
Recha – Schirmer nannte ein Fremder aus Berlin in unsrer Nachbarschaft das zierlichste und doch – bescheidenste Judenmädchen, das ihm noch vorgekommen sei. Freilich in Jerusalem, die Pflegetochter des weisen Nathan, das nimmt sich anders. Man kann nicht jungfräulicher und klüger zugleich, schwärmerisch-entzückter und besonnener in verschiedenen Situationen nach einander seyn, als Mad. Schirmer heute erschien. Weit vollendeter, als in der ersten Vorstellung, wo vielleicht manches Störende eintrat. Mit Begeisterung, als sei ein Stra[h]l des Engels auf ihr Gesicht gefallen, springt sie gleich zu Anfang dem lieben Vater an den Hals. Nun die allmälige Entzauberung durch Nathan’s scharfeindringende Zurechtweisung. Von nun an nirgends eine Spur von Verliebtseyn. Daher auch die heitere Fassung in der mit gewinnendem Wohllaut gesprochenen Frage: „nicht wahr, er kann auch nur verreiset seyn?“ Eben so wahr wurde die Zusammenkunft mit dem Tempelherrn gegeben, wobei wir die Feinheit, womit sie die harte Vergleichung des Tempelherrn mit dem Hunde, halb weggewandt und halb leise, sprach, darum nicht unbemerkt lassen möchten, weil wir von einer gerühmten Künstlerin sie recht stark betont hörten. Ihr Gelungenstes sind die Schlußszenen in Sittah’s Harem. Mit welcher Weichheit, Jungfräulichkeit, Hingebung tritt sie ein. Aber in dieser Demuth, welch ein natürlicher Adel – sie ist ja die Nichte des Sultans – wie sie über die Buchstabengelehrsamkeit so recht als Nathan’s Tochter spricht. Unvergeßlicher Lessing! Möchte diese Stelle unsern angelernten Buchstäblerinnen und Anempfinderinnen recht lebendig werden! Das Flehen um den Vater beim Sultan, das entsetzen, wie auf ihr „ach! mein Bruder!“ dieser zurücktritt, und sie nun zusammenschaudernd dem Vater an den Halt fällt, und „wir sind Betrüger!“ im wahren Naturschrei ausruft, zeigt die, Kunst mit Gefühl stets innig vermählende, Künstlerin. Ihr geschmackvoll gewählter weißer Anzug war prunklos vornehm und ächt orientalisch.
Wir behalten uns vor, über einige zwar untergeordnete, aber doch nichts weniger als gleichgültige Rollen, über Saladin, den Derwisch und die Prinzessin, bei einer nachfolgenden Vorstellung zu sprechen, bis wohin auch hier manches noch zur Vollendung reifen wird: Sittah – Christ ist eine sehr edle Figur von schönem Anstand.
Böttiger.Editorial
Summary
Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: “Nathan der Weise” von Lessing (Teil 2 von 2). Der erste Teil erschien in der vorigen Ausgabe.
Creation
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Responsibilities
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Tradition
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Text Source: Abend-Zeitung, Jg. 3, Nr. 158 (3. Juli 1819), f 2v