Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 11. Dezember 1817 (Teil 2 von 2)
(Beschluß.)
Wir berufen uns hier nur auf die im stummen Spiel so malerisch – Victorin hat sich ja der bildenden Kunst gewidmet – angegebene Porträtähnlichkeit des Vaters; auf die wahrhaft charakteristische Ungeduld, womit die nicht gleich dargereichte Schreibetafel gefordert wurde, um aufzuschreiben, was zur Entdeckung des Mordes führt; auf die rührende Entdeckungsscene des geliebten alten Dieners Valentin. Wie schön gelang der Künstlerin da die mimische Bezeichnung ihrer Jugend, wie sie der treue Diener auf den Armen trug, wie klein sie gewesen. Und dann ihr Anschmiegen, ihr Umklammern, ihr Zorn, als man den Liebling ihr entreißen will, endlich der kniefällige Ausdruck des Danks an den Grafen. Trefflich und nur durch weise Oekonomie des Spiels in dieser Steigerung möglich, war der Ausdruck des Schmerzes, wenn sie ihre Unwissenheit über den Stand des Mörders erklärt, und des Affects, als sie die Entdeckung ahnet. Auch macht die Gruppe im ersten Aufzug, wo sie die Hände ihrer drei geliebten Pfleger aus Freude alle zugleich an ihre Brust drückt, ein so schönes Bild, daß wenn, wie bei andern Theatern, es auch bei uns Sitte wäre, gelungene (in der Probe fleißig einstudirte) Gruppirungen und Tableaux zu beklatschen, diese den lautesten Beifall erhalten haben würde. Man darf, um alles zusammen zu fassen, nur sagen: diese Mimik bedurfte gar nicht der Nothhülfe, die der Dichter dadurch leisten zu müssen glaubte, daß Angelique nach jedem mimischen Intermezzo nun noch die Bedeutung ausspricht, was freilich, wo die Geberde nicht selbst Zunge hat, auf andern Bühnen nicht überflüssig seyn mag. Daß einer solchen Leistung vom tiefbewegten Publikum ungewöhnlicher, sich stets erneuernder Beifall erklang, daß die Künstlerin am Ende hervorgerufen wurde, welches bei uns durch anständige Sparsamkeit erst wahren Werth erhält, daß endlich die gefeierte Künstlerin diese Anerkennung eben so zart als bedeutungsvoll erwiederte, mag mehr für fremde Leser und auswärtige Blätter, die oft sehr einseitige Berichte enthalten, als für unser Publikum hier angemerkt stehen. Die Scene, worauf man in Wien besondern Werth legt, wo man das Heranschleichen des Mörders zu dem Betenden in der Einsiedelei erblickt, konnte, so gut auch die Decoration selbst angelegt war, doch wegen der geringen Breite unsrer Bühne nicht ausgeführt werden, doch gelang die Blitzbeleuchtung und das Herabstürzen in den Fluß untadelhaft. Es kommt auf die Unterschrockenheit der Schauspielerin an, die den Victorin spielt, und auf die physische Kraft des Schauspielers, der ¦ den Mörder giebt, um durch Emporheben des meuchlings verwundeten Jünglings den Eindruck für die Zuschauer noch grausender und erschütternder zu machen. Doch giebt es ja auch Zuschauer, die selbst die über Oskar blos geschwungene Keule nicht auszuhalten vermögen. Hier hat jedes Publikum seinen eignen Gradmesser. Der feinsinnige Bühnenkünstler wird stets daran ermessen, wie viel er darf und kann, aber nie vergessen, daß die wahre dramatische Kunst in etwas ganz anderm besteht, als in diesen Zufälligkeiten.
Der Mörder, von Reimbeau, ist ein schleichender, heuchlerischer Meuchel-Bube. Er muß also mit lächelnder Kälte und großer Verstellungskunst gespielt werden. Solche Verruchtheit bricht dann im Monolog um so gewaltsamer durch alle Schranken. So nahm Hr. Geyer die Rolle, der zu gnügen um so verdienstlicher ist, da der moralische Abscheu in der Brust der Zuschauer dem ästhetischen Beifall durchaus Hand und Zunge bindet. Wenn übrigens dieser denkende Künstler gleich in der ersten Scene des Betroffen-seyn ziemlich stark maquirt, so darf man sich nur an Marzials später mitgetheilte Beobachtung erinnern. Das Einwickeln im Mantel wird durch Victorins spätere Mimik bedingt. Trefflich gelang ihm die auflodernde Heftigkeit im Monolog zu Anfang des zweiten Akts. Die, welche ihn tadelten, daß er bei der Entlarvungsscene zu zahm gewesen sey, vergessen, daß es ein feiger Bösewicht, kein Bravo ist, den wir hier sehen. Die einzeln vor sich hin gesprochenen Worte (die apartes) können nicht schnell genug hingeworfen werden. – Auch die übrigen Personen wurden recht fleißig und rund aufgeführt. Die liebenswürdige Künstlerin, welcher die Angelique zu Theil wurde, leistete, was man bei einem fast überwältigendem Gefühl des Krankseyns nur zu leisten vermag, und verdient für diesen Pflichteifer lauten Dank. Der geächtete Bettler Valentin wurde von Herrn Hermann mit vielem Affect wahr und innig gespielt. In solchen Rollen haben wir ihn stets sehr gern gesehn. Es war seine letzte auf unsrer Bühne. Er wird stets gefallen, wenn er im Maaße seiner Kraft bleibt. Herrn Geiling’s Treuherzigkeit, als Babylas, gefiel. Damit ist’s aber bei diesem ächt französischen Charakter nicht abgemacht. Er bedenke, daß dieser Schwätzer auch Horcher und voll Beweglichkeit und ämsigen Hin- und Herrennens sind. Das Stück hat bei allen ihm anklebenden Unvollkommenheiten der Verwicklung und Diction zu viel Reiz, um nicht oft wiederholt, und durch diese von allen Seiten gewünschte Wiederholung noch geründeter, und besonders in dem Theile, wodurch es Melodrama heißt, vollendeter zu werden.
Editorial
Summary
Aufführungsbericht Dresden: “Die Waise und der Mörder” am 11.12.1817
Creation
vor 30. Dezember 1817
Tradition
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Text Source: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 312 (30. Dezember 1817), f 2v